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1. Juni 2023, 15:56 Uhr

Angeklagter 76-Jähriger „fügt Enkelin Leid zu“

Lesedauer: ca. 2min 43sec
Angeklagter 76-Jähriger „fügt Enkelin Leid zu“

Aurich. Die Jugendschutzkammer des Landgerichts Aurich war guter Dinge, das Verfahren gegen einen 76-jährigen Auricher am zweiten Verhandlungstag zum Abschluss zu bringen und ein Urteil verkünden zu können. Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, im Sommer 2021 seine noch minderjährige Enkelin sexuell missbraucht und vergewaltigt zu haben. Aufgrund von Beweisanträgen der Verteidigung geht der Prozess aber nun in die Verlängerung.

Die Strategie des Verteidigers wirkt auf Außenstehende nicht nur wenig sinnvoll, sondern geradezu paradox – und das an gleich mehreren Punkten. So hatte es einen Schriftwechsel zwischen dem Verteidiger und der Anwältin der Nebenklägerin gegeben. In den Schriftsätzen des Verteidigers war die Rede davon, dass sich sein Mandant einer „inakzeptablen Entgleisung“ schuldig gemacht und seiner Enkelin Leid zugefügt habe. Der Angeklagte habe sich „hinreißen“ lassen und wolle sich dafür entschuldigen sowie im Rahmen eines „Täter-Opfer-Ausgleichs“ 4000 Euro Schmerzensgeld zahlen.

Die Antwort der Anwältin: Das Tatgeschehen und die damit zusammenhängenden Verleumdungen hätten ihre Mandantin schwer belastet. Die Enkelin wünsche keinerlei Kontakt mit dem Angeklagten. Dennoch sei die Nebenklägerin bereit, einem Täter-Opfer-Ausgleich zuzustimmen, ein Schmerzensgeld müsse aber mindestens 10000 Euro betragen. Diese Summe hielt wiederum der Verteidiger für zu hoch gegriffen, bot 5000 Euro an und fügte sogleich die schriftliche Vereinbarung bei, die nur unterschrieben werden musste. Das passierte aber nicht. Die Nebenklägerin nahm die Entschuldigung nicht an. Die Mandantin lebe Hunderte Kilometer vom Angeklagten entfernt und sei ihm ausgeliefert gewesen, argumentierte die Anwältin bezüglich der Höhe des geforderten Schmerzensgeldes. Der Angeklagte hatte seine Enkelin im Sommer 2021 eingeladen, ein paar Urlaubstage bei ihm zu verbringen. Während dieser Zeit fanden die angeklagten Taten statt.

Der vom Verteidiger angestrebte Täter-Opfer-Ausgleich, der bei der Urteilsfindung zumeist strafmildernd berücksichtigt wird, kam also nicht zustande. Fuhr er deshalb stärkeres Geschütz auf? Es bestand darin, dass der Anwalt die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens beantragte. Diesen Antrag wies die Kammer zurück. Das Gericht könne sich selbst ein Bild von der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussage machen, begründete Richter Bastian Witte die Entscheidung.

Der Vorsitzende wies zudem darauf hin, dass sich die Angaben des Opfers und des Angeklagten nur in zwei Punkten unterschieden. Der Angeklagte gab an, dass er keinen „entgegenstehenden Willen“ seiner Enkelin wahrgenommen habe. Sie hatte angegeben, dass sie ihrem Opa klar gesagt habe, dass sie das nicht wolle. Das galt auch für den Kuss, den der Angeklagte bestritt. Ansonsten räumte der Angeklagte den Missbrauch im Kern ein.

Doch der Verteidiger gab nicht klein bei. Er will nun die Krankenakte der Nebenklägerin beiziehen und die behandelnde Therapeutin vernehmen lassen. Die Nebenklägerin wurde bis zu ihrem 16. Lebensjahr wegen Depressionen und Selbstverletzungen behandelt. Ursache der Erkrankung soll der sexuelle Missbrauch durch den leiblichen Vater gewesen sein, als die Nebenklägerin vier Jahre alt war.

Nach dem Vorfall mit dem Angeklagten erlitt die junge Frau einen Rückfall und verletzte sich erneut. Der Verteidiger sieht darin Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung, die wiederum dafür verantwortlich sei, dass die Darstellung der Enkelin „nicht erlebnisorientiert“ und damit nicht verwertbar sei.

Der Angeklagte habe seiner Enkelin „Leid zugefügt“, hieß es in dem Schreiben des Verteidigers an die Anwältin der Nebenklägerin. Mit seiner Verteidigungsstrategie trägt der Anwalt nicht zur Minimierung des Leids, sondern zum Gegenteil bei.

Der Prozess wird fortgesetzt.

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