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5. Juni 2023, 13:00 Uhr

Unsichtbares sichtbar machen: Diese Bilder zwingen zum Erinnern

Es ist eine ungewöhnliche Ausstellung zum Konzentrationslager in Engerhafe, die der Künstler Herbert Müller auf die Beine gestellt hat.

Lesedauer: ca. 3min 25sec
Unsichtbares sichtbar machen: Diese Bilder zwingen zum Erinnern

Ungewöhnlich ist die Ausstellung, die seit Freitag im Chorumgang der Ludgerikirche zu sehen ist: Sie zeigt das Konzentrationslager in Engerhafe, an das schon kurz nach dem Krieg nichts mehr erinnerte – und an das sich niemand erinnern wollte. „Unsichtbares sichtbar machen – das KZ vor der Haustür“, hat der Künstler Herbert Müller aus Fehnhusen seine in den Jahren 1987 bis 2023 entstandenen Arbeiten überschrieben, von denen 50 bis zum 31. Juli in der Kirche zu sehen sind.

Als der Wunsch, die Bilder vom KZ Engerhafe in der Ludgerikirche zu zeigen, an den Norder Pastor Martin Specht herangetragen wurde, nahm er Kontakt zu Herbert Müller auf, aus dem sich eine Einladung in dessen Gulfhof ergab. „Herr Müller hat mich infiziert“, gestand Specht bei der Vernissage im voll besetzten Hochchor der Ludgerikirche. Er dankte Michaela Kruse vom Kirchenvorstand und Küster Karl Luitjens, die geholfen hatten, die Ausstellung im Kirchenumgang zu verwirklichen. So hatte Luitjens die langen Tücher, auf denen Müller die Grabungsprotokolle künstlerisch umgesetzt hat, in schwindelerregender Höhe im Chorgewölbe befestigt. Kantor Thiemo Janssen setzte die zur düsteren Thematik passenden musikalischen Akzente an der Arp-Schnitger-Orgel.

Auch Regionalbischof Dr. Detlef Klahr beteiligte sich an der Gestaltung dieser ungewöhnlichen Vernissage in der Kirche. Er begrüßte es, dass der inzwischen 70-jährige Müller einen bedeutenden Teil seines Lebenswerkes der Öffentlichkeit präsentieren kann, zu dem die Worte der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Hilde Domin passen: „Der Schmerz ist ein Haus ohne Fenster“.

188 Tote in zwei Monaten

Klahr wies darauf hin, dass in nur zwei Monaten – vom 21. Oktober bis 22. Dezember 1944 – 2000 Männern in dem Barackenlager neben der Kirche unsägliches Leid zugefügt worden war. 188 von ihnen überlebten den mörderischen Arbeitseinsatz in der Nähe von Aurich nicht, wo sie einen Panzergraben für den sogenannten Friesenwall errichten sollten.

Herbert Müller hat die unsäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in seinen Bildern veranschaulicht, er hat aber auch im Rahmen des Vereins Gedenkstätte Engerhafe ein Panzergraben-Mahnmal in Aurich-Sandhorst geschaffen und die Einzelgräber auf dem Engerhafer Friedhof wieder sichtbar gemacht. 1952 waren die KZ-Opfer exhumiert und identifiziert worden.

Klahr wird nie vergessen, wie Herbert Müller ihm die großformatigen Kohlezeichnungen der Schädel in
Engerhafe gezeigt hatte, wo im Alten Pfarrhaus eine Gedenkstätte eingerichtet worden war. Der Verein habe es geschafft, mit Angehörigen ins Gespräch zu kommen, lobte Klahr. „Es gelang, dem Schmerz ein Fenster zu öffnen.“

Spuren fast ausgelöscht

Pastor Specht erinnerte im Gespräch mit Herbert Müller daran, dass schon 1945 die Spuren des Konzentrationslagers in Engerhafe fast ausgelöscht waren. „Der Nebel der Geschichte hatte sich über das KZ vor der Kirchentür gelegt.“ An einem sonnigen Vormittag, erzählte Müller, hatte er einem Vortrag von Martin Wilken gelauscht, der über die grauenhaften Zustände in dem Lager und von dem nicht minder unmenschlichen Arbeitseinsatz berichtete. „Die Bilder, die sich mir aufdrängten, bekam ich nicht mehr aus dem Kopf.“ Er hat die Gefangenen gemalt – als Aquarelle und mit Kohle auf Japanpapier, zunächst in gestreifter Häftlingskleidung. Als er sich mit dem Panzergraben beschäftigte, wusste er, dass die Menschen damals mit gelben Kreuzen beschmiert worden waren.

Von dem KZ existiert heute nichts mehr – bis auf die Zettel mit den Namen der Toten, die 1945 in einem kleinen Briefumschlag gefunden worden waren: die Buchführung des Todes.

2009 hatten 65 Interessierte den Verein Gedenkstätte KZ Engerhafe gegründet, der auch eine Homepage unterhält. Dadurch habe sich ein lebendiger Kontakt zu Angehörigen der KZ-Opfer entwickelt, durch den auch Freundschaften entstanden seien, freute sich Müller. „Der Dialog hat eine zweite Seite: Engerhafe hat gelernt, sich mit diesem Teil seiner Geschichte auseinanderzusetzen“, stellte Specht fest. Immer mehr Menschen sprächen inzwischen über das, was sie fast ein Menschenleben lang verdrängt hatten.

Die Kunsthistorikerin Dr. Annette Kanzenbach wies in ihren Ausführungen darauf hin, dass Müller bereits von 1983 bis 1987 zeitlose Bilder vom Krieg, von Soldaten in Schützengräben, geschaffen hatte. „Spuren unerträglicher Geschichte sind auch vor der eigenen Haustür zu finden“, sagte sie. In seinen beklemmenden Bilderzyklen vom KZ Engerhafe habe er sowohl die Arbeitseinsätze als auch das Lagerleben sowie das Nebeneinander von Dorf- und Lagerleben und schließlich die Toten sichtbar gemacht. Ein Bild mit dem Titel „Eisige Stille“ vermisste Kanzenbach allerdings in der Ausstellung. „Es wird einen Platz finden“, versprach Müller.

Im Chorumgang der Kirche tritt Müllers Kunst, die sich mit dem KZ beschäftigt, in einen spannenden Dialog mit der sakralen Kunst. Dazu passt die Grabplatte, die der Künstler für die 188 Opfer aus einer mit Plexiglas bedeckten Kohlezeichnung geschaffen hat: Darin spiegelt sich das Kirchengewölbe. Aus den KZ-Opfern sind Märtyrer geworden.

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