Den Ostfriesen ewig dankbar
Mit 14 Jahren kam Mitra Bilal nach Norden und baute sich hier ein neues Leben auf.
Norden Vor einem Monat wurde Baschar al-Assad gestürzt. Der diktatorische Herrscher Syriens wurde von den Rebellen der HTS entmachtet und floh nach Russland. In Deutschland jubelten Tausende Syrer über den Wechsel, auch in Norden, wohl wissend, dass durch eine neue Regierung in ihrer Heimat nicht alles rosig ist.
Mitra Bilal sagte damals dem KURIER: „Heute freuen wir uns.“ Die junge Frau war „vorsichtig optimistisch“, dass sich alles zum Positiven ändere. „Seit Jahrzehnten hat seine Familie das Land mit eiserner Hand regiert, geprägt von Folter, politischer Unterdrückung und absolut keiner Meinungsfreiheit“, erklärte sie.
Während Bilal und ihre Landsleute jubelten, kamen die ersten Stimmen auf, die Syrer jetzt schnellstmöglich in ihre Heimat zu schicken. Rückführungspläne wurden entworfen, Handgelder ins Spiel gebracht. Bilal will aber gar nicht in ihr Geburtsland zurück. Weil Deutschland ihr Zuhause geworden ist.
Erinnerungen
Mitra Bilal kam 2014 nach Deutschland, noch vor dem großen Flüchtlingsstrom. Sie war 14 Jahre alt. Wer sich mit ihr über ihre Flucht und ihr heutiges Leben in Norden unterhält, erhält gleichzeitig eine Schilderung der syrischen Historie und des Lebens in ihrer Heimat.
Bilal berichtet von einem Land ohne Meinungsfreiheit, von einem diktatorischen Regime, von Spitzeln in der Nachbarschaft. Sie erinnert an den Arabischen Frühling, der ihre Landsleute beflügelte, gegen Assad auf die Straße zu gehen. Aber sie denkt auch an die Menschen, die dem Diktator ergeben waren. Weiß sie einiges nur aus Erzählungen, erinnert sie sich daran, wie sie selbst auf dem Balkon des Elternhauses stand, als regimetreue Gesänge auf den Straßen angestimmt wurden. In dieser Zeit wuchs die Angst in ihrer fünfköpfigen kurdischen Familie. Wie würde sich ihr Leben verändern? Im Sommer 2012 fielen die ersten Bomben auf Aleppo, die Stadt, in der sie lebte.
Vater und Mutter Bilal beschlossen, Syrien zu verlassen. Der Vater arbeitete in einer Zementfabrik, die Mutter war Lehrerin. Für beide war der Plan gefährlich, da es als Verrat galt, während des Krieges um Urlaub oder Entlassung aus dem Dienst zu bitten. Doch sie riskierten ihr Leben für die Freiheit.
In einem ersten Schritt ging Familie Bilal von Aleppo ins rund 40 Kilometer entfernte Afrin, wo sie bei den Großeltern unterkam. Die Eltern fuhren weiterhin nach Aleppo, offiziell um zu arbeiten. Hauptsächlich ging es aber darum, Habseligkeiten zu verkaufen, um einen Schleuser zu finanzieren.
Zu Fuß geflohen
Am 16. Oktober 2013 war es so weit: Zu Fuß brach Familie Bilal auf in die Türkei. Dort blieb der Vater zurück, das Geld reichte nicht für alle. Die Mutter und ihre drei Kinder liefen weiter nach Bulgarien, Mitra voran. Sie war die älteste. Trauer über die Trennung vom Vater, von dem man nicht wusste, ob und wann sie ihn wiedersehen würde, durfte sie nicht zeigen. Zwei Taschen Habseligkeiten trugen die Bilals mit sich. Eine sogenannte Fluchttasche wird vom Ostfriesischen Teemuseum aufbewahrt und wurde dort bereits ausgestellt.
Schwierige Ankunft
Lange bevor die Tasche und vor allem Mitra Bilal und ihre Familie nach Norden kamen, strandeten sie dank des Schleusers in Bulgarien. Die ersehnte Freiheit führte sie in ein Auffanglager, an das sich Bilal heute mit Ekel erinnert. Ein enger Raum mit zwei Matratzen für die Familie und andere Menschen, dazu ein Tisch aus Eisen. Hygiene war ein Fremdwort. Bilal nennt das Lager ein Gefängnis ohne Gitter. Für sie und ihre Familie war klar: Hier wollten sie keine Zukunft aufbauen. Sie wollten weiter.
Ein anderer Schleuser brachte die Familie über Ungarn, Rumänien und Österreich nach Goch an den Niederrhein, wo die Schwester von Mutter Bilal bereits seit 30 Jahren lebte. Sie waren in Deutschland angekommen.
Hier begann ebenfalls ein Gang durch die Gemeinden: In Dortmund wurde der Asylantrag gestellt, es ging nach Neuss, dann in das Grenzdurchgangslager Friedland im Landkreis Göttingen. Dort, erinnert sich Mitra Bilal, war es nicht nur schöner als in Bulgarien, hier machte sie auch einen Sprachkurs. Und dann ging es nach Norden-Norddeich, wo Familie Bilal zu den ersten Flüchtingen gehörte. In einem damaligen Hotel kamen Mitra, ihre Mutter und ihre Geschwister in eingerichteten Flüchtlingswohnungen unter. Ein Jahr nach der Flucht kam auch der Vater nach Deutschland und konnte seine Familie wieder in die Arme schließen. Mitra Bilal blickt mit einer gewissen Dankbarkeit auf ihre Flucht zurück. Sie weiß, dass diese im Vergleich zu denen anderer Syrer ein Spaziergang gewesen ist. Zudem hat sie niemanden aus ihrem Umfeld verloren. „Deshalb bin ich stabil geblieben“, sagt sie im vollen Bewusstsein, dass es anderen, auch aus ihrem Umfeld, ganz anders ergangen ist.
In Norden aufgenommen
In Norden fand Familie Bilal schnell eine neue Heimat: Die Mutter begann in der Linteler Schule, der Vater wurde Elektriker. Ihre jeweiligen Ausbildungen wurden nicht anerkannt, daher konnten sie in ihre ursprüngliche Arbeit nicht zurückkehren.
Mitra Bilial ging aufs Ulrichsgymnasium, die Mutter wollte, dass sie die beste Schule besuchte. Ihre sehr guten syrischen Zeugnisse halfen. Aufgrund guter Englischkenntnisse kam sie mit ihren Mitschülern schnell ins Gespräch. Und die halfen ihr, schnell Deutsch zu lernen. Die direkten Gespräche brachten ihr mehr als Sprachkurse und Wörterbücher. Das erste Schuljahr wurde dennoch nur als „teilgenommen“ gewertet. Zu viel musste Bilal noch lernen. Doch nach einer Jahrgangswiederholung kam sie in der Schule zurecht, meisterte ihr Abitur, absolvierte ein Freiwilliges Soziales Jahr und machte dann in Essen eine Ausbildung zur Verwaltungsfachkraft. Ausgelernt kehrte sie nach Norden zurück und bekam eine Stelle im Sozialamt.
Sie hat einen erfolgreichen Weg hinter sich und ist dankbar. Die Deutschen und vor allem die Norder hätten sie immer gut behandelt. Rassistische Anfeindungen habe sie nie erlebt. Auch ihre Mutter bedankt sich bei den Nordern.
Längst ist Mitra Bilal in der Stadt verwurzelt, trifft sich mit Freunden, geht auf Partys. Ihr Bruder, der eine ostfriesische Freundin hat, spricht plattdeutsch. Sie selbst will beim Hochdeutsch bleiben. Manchmal hat sie Schwierigkeiten, ein passendes Wort oder den richtigen Artikel zu finden. Aber das gelingt vielen Muttersprachlern auch nicht.
Ob sie immer in Norden bleiben möchte, weiß sie dennoch nicht. Ja, die Luft sei schön. Aber der Wind... Spanien reize sie da schon mehr, sagt sie lachend.
Die Hoffnung stirbt nie
Nur eines ist für sie sicher: In ihre Heimat will sie nicht zurück. „Ich weiß nicht, was mich nach Syrien lockt“, sagt Mitra Bilal. „Ich liebe das Land. Aber es drängt mich nichts dorthin.“ Familie und Freunde? Viele von ihnen sind längst auch in Deutschland.
Bilal hat noch Verwandte in Syrien. Sie weiß, dass das Elternhaus vom Bürgerkrieg verschont geblieben ist. Einen Urlaub in der Heimat kann sie sich vorstellen. Mehr nicht. Auch, weil sie nicht weiß, wie mit Minderheiten in Zukunft umgegangen wird. „Assad hat uns Kurden unterdrückt“, berichtet sie. „Er hat uns die grundlegendsten Rechte verwehrt – Sprache, Bildung, Namen und Religion.“ Werden die neuen Herrscher die Minderheiten berücksichtigen? Oder wird der Krieg zwischen Konfessionen von Neuem beginnen?
Mitra Bilal weiß von ihren Landsleuten: „Viele wollen zurück, obwohl sie hier ein Leben aufgebaut haben. Die Hoffnung ist nie gestorben.“ Für sich sieht sie das anders. „Ich gehöre in beide Länder“, sagt Bilal. Sie hätte positive Eigenschaften beider Nationalitäten in sich. „Meine Persönlichkeit ist vielfältig.“
Zu ihrer Art gehört auch, dass sie aufklären will, erzählen und berichten. Am Donnerstag referiert sie um 19 Uhr im Norder Marktpavillon über die Lage in Syrien. Der Besuch ist kostenlos. Aber sicher nicht umsonst.