Der Landkreis Aurich ist Vorreiter einer inklusiven Bildung
Der Landkreis Aurich sei anderen Kommunen bei der Schulbegleitung sechs Jahre voraus, sagt Heinz Müller vom Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz. Foto: Werner Jürgens
Wenn eine Sache gut funktioniert, sollte man ruhig damit weitermachen. Neudeutsch heißt so etwas „Verstetigung“. Eine solche stand am Montag auf der Tagesordnung der gemeinsamen Sitzung von Sozial- und Jugendhilfeausschuss des Landkreises Aurich. Es ging um das 2018 eingeführte Pool-Modell für die Schulbegleitung. Die Ausschussmitglieder votierten einstimmig für eine Fortsetzung.
Nach dem bis 2018 üblichen Prozedere mussten Schulbegleitungen individuell beantragt werden. Ein Manko dieses Systems war mangelnde Flexibilität. Die Antragsverfahren zogen sich nicht selten unnötig in die Länge. Zudem war häufig eine Betreuungskraft einem Kind fest zugeordnet. Beim Pool-Modell stehen die Schulbegleiter hingegen quasi „Gewehr bei Fuß“, um schnell und gezielt dort eingesetzt zu werden, wo sie gerade gebraucht werden. Der Landkreis hat dafür mit der AuNo (Aurich Norden) GmbH eine eigenständige Firma gegründet, die sich um die Koordination und Organisation kümmert. Begleitet wird dieser Prozess vom Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz (ISM). „Ich kann Sie zu Ihrer Entscheidung nur beglückwünschen, weil Sie allen anderen sechs Jahre voraus sind“, meinte ISM-Geschäftsführer Heinz Müller am Montag an die Adresse des Landkreises Aurich, der seiner Ansicht nach mit Blick auf eine inklusive kommunale Bildungslandschaft eine Vorreiterfunktion einnimmt. Ihm sei zumindest keine Kommune in Deutschland bekannt, die die Schulbegleitung schon so weit entwickelt hat, wie Müller betonte.
Dies konnte er auch mit entsprechenden Statistiken untermauern. Demnach ist die Zahl junger Menschen, die in Deutschland generell Eingliederungshilfen erhalten, zwischen 2012 und 2022 von rund 65000 auf über 150000 Betroffene angewachsen. Besonders dramatisch sieht die Situation an den Schulen aus. Dort haben sich die Fallzahlen zwischen 2012 und 2021 von 10660 auf 50639 nahezu verfünffacht. Und die Tendenz seitdem ist laut Müller weiter steigend. Zwar haben sich auch im Landkreis Aurich die Fallzahlen von 140 im Schuljahr 2012/2013 auf zuletzt 917 im aktuellen Schuljahr 2023/2024 extrem erhöht, allerdings waren sie entgegen dem bundesweiten Trend in den vergangenen drei Jahren teilweise rückläufig und haben sich laut Müller mittlerweile stabilisiert. Ein Grund ist nach seiner Einschätzung, dass Präventivmaßnahmen, die zuvor bei der Schulbegleitung kaum eine Rolle gespielt haben, im Pool-Modell besser greifen. Meistens handelt es sich um Übergangshilfen, die drei Stunden oder weniger pro Woche dauern und den Schritt vom Kindergarten zur Einschulung bzw. zwischen vierter und fünfter Klasse begleiten. Solche Maßnahmen gelten als probates Mittel, um zu einem möglichst frühen Zeitpunkt negative Entwicklungen zu erkennen und effektiv gegenzusteuern. Die Zahl solcher Präventivfälle ist im Landkreis Aurich nach Darstellung von Müller von anfänglich 98 in 2018/2019 auf inzwischen 135 im aktuellen Schuljahr angewachsen. Insgesamt beschäftigt der Landkreis Aurich momentan 422 Schulbegleiter, die 8754 Wochenstunden leisten. Zum Vergleich: Während des Schuljahres 2016/2017 waren es 229 Schulbegleiter mit 4957 Wochenstunden. Analog dazu ist deren Budget von rund 3 Millionen Euro (2016/2017) auf zuletzt 9,4 Millionen Euro angewachsen. Von einer „Kostenexplosion“ mochte Heinz Müller trotzdem nicht sprechen und verwies auf die Inflation sowie höhere Löhne. Würde man beides herausrechnen, lägen die Mehrausgaben seit dem Schuljahr 2017/2018 unter dem Strich „bereinigt“ bei 143 Prozent.
Das ISM fragt auch regelmäßig ab, wie zufrieden die Beteiligten mit dem Pool-Modell sind. Besonders positiv fällt das Urteil der Eltern aus, von denen im vergangenen Jahr 72 Prozent das System als „sehr gut“ oder „gut“ bewerteten. 2019 lag deren Anteil noch bei 52 Prozent. Bei den Schulbegleitern hat sich diese Zustimmungsquote von 74 auf 82 Prozent erhöht, während sie bei den Schulleitungen von 88 Prozent auf 49 Prozent rapide gesunken ist. Letzteres erklärte Heinz Müller damit, dass manche ihre Erwartungen vielleicht etwas zu hoch geschraubt haben könnten. Auch bei einigen Lehrkräften bleibt offensichtlich nach wie vor eine gewisse Skepsis. Immerhin hat sich aber der Anteil derjenigen, die das Pool-Modell als „sehr gut“ oder „gut“ einstufen, in den vergangenen drei Jahren von 29 Prozent auf jetzt 37 Prozent ebenfalls stark verbessert.