Der Passat aus Emden: Seit 50 Jahren der König der Biedermänner
Iconic design: Volkswagen Passat B1 LS from 1973
Emden/Wolfsburg Wir schreiben die frühen 1970er-Jahre. Durch Wolfsburg weht der „Wind of Change“. Während politisch die Verhältnisse noch so eisern sind wie der Vorhang zwischen West und Ost, haben zumindest die VW-Techniker eine Revolution angezettelt und sich vom luftgekühlten Boxermotor im Heck verabschiedet.
Mit dem Passat beginnen sie 1973 noch ein Jahr vor dem Golf die Ära der Fronttriebler und läuten damit vor ziemlich genau 50 Jahren den langen Abschied von Käfer & Co ein. Mit Erfolg: Denn in einem halben Jahrhundert wird der Passat zum Bestseller, verkauft sich besser als das Model T von Ford, jedes Auto von General Motors und als der Käfer. Er zählt mit bislang rund 30 Millionen Exemplaren zu den erfolgreichsten Autos der Welt, schwärmen die Niedersachsen.
In seiner Klasse ist der Klassiker dabei ohnehin nicht zu schlagen. Denn die wichtigsten Konkurrenten haben in dieser Zeit jeweils drei Namen verschlissen und sich beide mittlerweile aus der Mittelklasse verabschiedet. So gab es bei Ford den Taunus, den Sierra und den Mondeo, und bei Opel den Ascona, den Vectra und den Insignia.
Die Limousine wurde eingestellt. Es lebe der Variant!
Der Passat dagegen ist immer Passat geblieben, anders als die eingestellten Modelle bei Opel und Ford: Zwar bereitet VW mit dem ID.7 gerade seine erste elektrische Mittelklasse vor, hat aber pünktlich zum Geburtstag auch noch einmal einen neuen Passat auf die IAA im September gebracht. Die in Zentral-Europa ohnehin zu vernachlässigende Limousine wurde aber eingestellt.
Das war auf dem Genfer Autosalon im Frühjahr 1973 noch andersherum. Denn dort drehte sich eine aus heutiger Sicht ziemlich unscheinbar wirkende Limousine im Scheinwerferlicht - mit Fließheck zwar, aber ohne Durchlademöglichkeit. Mit der Kampagne „Passat. Mit diesem Auto beginnt etwas Neues“ kam das Modell ab 9060 D-Mark wenig später in den Handel.
Das Motto zog sich übrigens durch bis in die Nomenklatur: Wo die Pkw aus Wolfsburg bis dato immer eine Nummer hatten, stand jetzt erstmals ein Name am Heck. Das ursprünglich favorisierte Kürzel 511 für die intern ganz nüchtern B1 genannte Baureihe wurde verworfen und der „sichere Segelwind auf dem Kurs um die Welt“ zum Taufpaten, erläutert ein früher VW-Pressetext. So wurde auch dem Letzten klar, dass mit dem Passat ein frischer Wind durch Wolfsburg wehte.
Entfacht hatte diesen Wind kein Geringerer als Giorgetto Giugiaro, der den Auftrag für den Passat im Paket mit Golf und Scirocco übernommen hatte. Während der Italiener beim Golf allerdings eine echte Revolution anzetteln konnte, hatte ihm der zwei Jahre zuvor frisch von Audi kommende zum VW-Chef berufene Rudolf Leiding beim Passat den Freigeist aus Kostengründen ausgetrieben.
Die Basis des Passat war der Audi 80
Der originale Entwicklungsauftrag EA272 wurde kurz vor knapp verworfen. Der damals noch junge Audi 80 wurde zur Basis bestimmt, zitiert VW-Klassiksprecher Christoph Peine aus den Archiven: Statt einer eigenen Entwicklung gab es also nur ein eigenständiges Design.
Und auch damit wurde der Passat zum Vorreiter einer Bewegung, die bis heute Bestand hat: Nicht nur in der Mittelklasse, wo es nach wie vor enge Bande gibt zwischen Audi und VW, sondern für die Plattform-Strategie des gesamten Konzerns.
Als VW den neuen Passat präsentierte, waren die Journalisten begeistert, lobten die italienische Linie und schwärmten vom üppigen Platzangebot, weil hinten nun Platz ist für Koffer statt für den Motor. Und auch bei den Kunden kam der Wagen gut an.
Der brave Traum aller Familienväter
Spätestens als ein gutes Jahr später der Variant mit steilerer Klappe und umklappbarer Rückbank folgte und der Passat so zum Kombi wurde, avancierte er zum ultimativen Praktiker und klassenlosen Kassenschlager: Er war der brave Traum aller Familienväter, brachte als Firmenwagen die deutsche Wirtschaft und Zigtausende Handlungsreisende in Fahrt und machte mit Blaulicht Karriere bei Polizei und Feuerwehr.
VW pflegte dieses Image und den Passat tapfer, präsentierte im steten Rhythmus eine Generation nach der anderen und sparte nicht an technischen Highlights, so Peine mit Blick auf den Stammbaum. Mit der Formel E gab es bereits in der 1983 vorgestellten Generation B2 ein Sparmodell, im B3 (ab 1991) kam der Allrad-Passat Syncro.
Kein Wunder, dass VW den Passat über die Jahre in vielen Ländern produzierte; neben China und den USA auch in Japan, Brasilien, Mexiko oder Südafrika. Seine Heimat allerdings war immer Emden, wohin die Produktion 1977 umgesiedelt und über acht Generationen gehalten wurde. Erst jetzt, mit dem B9 zieht er zusammen mit dem Skoda Superb nach Bratislava um und macht so in Emden Platz für den ID.7.
Wer in diesen Tagen noch einmal mit dem Variant aus der ersten Generation unterwegs ist, landet in der Geschmackswelt der 1970er-Jahre: Man findet sich wieder in rostroten Polstern, schaut auf ein spärliches Armaturenbrett mit einem Bezug aus Vinyleiche und legt den Arm auf Türen, die mit Kunstleder gepolstert sind.
Ja, eine Fahrt im ersten Kombi von 1974 ist eine wunderbare Zeitreise, beamt einen mit jedem Kilometer weiter zurück und entschleunigt, ohne dass man sich langsam fühlt. Doch so selig die Erinnerungen auch sein mögen, wird der Passat wie so viele Dauerbrenner und Bestseller von den Sammlern geschmäht, sagt Oldtimer-Spezialist Frank Wilke.
„Der Passat ist ein Musterschüler, der fast alles kann, mit dem aber kaum jemand spielen will“, urteilt der Chef vom Marktbeobachter Classic Analytics: „Speziell die frühen Jahrgänge wirken im Vergleich zu Opel Ascona und BMW Dreier etwas steril und bieder.“
Und dass VW es mit dem Rostschutz damals noch nicht so genau nahm, macht die Sache nicht leichter. Denn vom B1 seien schlicht kaum mehr Exemplare erhalten. Sie sind, buchstäblich, weggerostet.