Die „Kuhrinne“ wird zur Lebensader

Von Werner Jürgens

Die „Kuhrinne“ wird zur Lebensader

Wegen einer solchen „Kuhrinne“ wolle er sich nicht ins unwirtliche Ostfriesland begeben, soll Otto von Bismarck gesagt haben. Gemeint hat der damalige deutsche Reichskanzler den Ems-Jade-Kanal, der 1888 ohne seine Anwesenheit eingeweiht wurde. Der offizielle Auftrag zu den Vorarbeiten war bereits im Juli 1873 vom preußischen Finanzministerium erteilt worden. Die ganze Geschichte des Kanalbaus reicht aber noch wesentlich weiter zurück.

Da Ostfrieslands Straßen bis zur Mitte des 19. Jahrhundert in einem katastrophalen Zustand waren, wurden zum Transport von Personen und Gütern lange die Kanäle bevorzugt. Nachdem Graf Edzard II. seine Residenz von Emden nach Aurich verlegt hatte, fehlte allerdings ausgerechnet zwischen Ostfrieslands Hauptstadt und seinem wichtigsten Seehafen ein vernünftig ausgebauter Wasserweg.

Als der niederländische Ingenieur Johann von Honart um 1670 eine erste Expertise nebst Kostenkalkulation für ein solches Projekt vorlegte, wurde es jedoch für zu teuer befunden und einstweilen auf Eis gelegt. Ähnlich erfolglos blieb zunächst die 1781 gegründete „Sozietät für die Treckschuitenfahrt von Aurich nach Emden“, bis sich ihr 1796 einflussreiche Emder und Auricher Bürger und Bürgerinnen anschlossen und durch Aktienverkäufe ein Startkapital in Höhe von 36000 Reichstalern generiert wurde. Das überzeugte auch Friedrich II., der 1798 seine königliche Zustimmung erteilte. Die Preußische Kriegs- und Domänenkammer stellte Land zur Verfügung. Schon im Frühjahr konnte die Wasserbauingenieure Tönjes Bley und Nikolaus Franzius loslegen.

Vorläufer geht in Betrieb

Aurich erhielt einen Hafen mit einem Speditionshaus. Dorthin führte ein „Speisegraben“, der den Kanal unter Ausnutzung der Sandhorster und Tannenhauser Ehe vom Ewigen Meer mit Wasser versorgte. Um das Entwässerungssystem nicht zu beeinträchtigen, wurden die Wasserspiegel mittels Schleusen ihren natürlichen Pegelständen angeglichen. Nach nur zwei Jahren Bauzeit war der Treckfahrtkanal für den regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Aurich und Emden fertig. Befördert wurden sowohl Personen als auch Güter. Als Gefährte dienten Schuiten. Die wurden von Pferden oder per Hand „getreidelt“, also auf Wegen parallel zum Kanal an Seilen oder Ketten gezogen. Daraus leitet sich auch der Name ab. „Trecken“ ist das plattdeutsche Wort für „Ziehen“.

Eigentlich hätte der Kanal in östlicher Richtung noch bis nach Wittmund und Esens ausgebaut werden sollen. Das scheiterte am Geldmangel. Zudem bekam Ostfriesland ab den 1840er-Jahren endlich verstärkt gepflasterte Chausseestraßen, die vor allem dem Personen- und Postverkehr bessere Bedingungen boten.

Nachdem die Preußen sich 1866 Ostfriesland vom Königreich Hannover zurückgeholt und 1869 am Jadebusen auf einstigen Terrain des Großherzogtums Oldenburg ihren Marinestützpunkt Wilhelmshaven errichtet hatten, erschien der Ausbau der Binnenschifffahrt den nun politisch verantwortlichen Kräften doch wieder interessant. Die ambitionierten Pläne sahen vor, von Emden aus den Treckfahrtkanal zu begradigen und zu vertiefen und ihn in möglichst direkter Linie nahe an Aurich vorbei in Richtung Reepsholt bis nach Wilhelmshaven fortzuführen. Dazu mussten im Verlängerungsabschnitt entsprechend den Geländeverhältnissen zusätzliche Schleusen gebaut werden.

1880 wurde der erste Spatenstich gesetzt. Bei den Bauarbeiten herrschte ständig Streit zwischen heimischen und ausländischen Arbeitern, die aus Holland, den deutschen Ostgebieten und Polen geholt worden waren. Ungeachtet dessen barg das Werkeln am Kanal immense Gefahren für Leib und Leben. Bagger waren damals noch im Entwicklungsstadium. Der Aushub der Erde geschah nach wie vor hauptsächlich per Hand mit der Schaufel. Häufig kam es zu Erdrutschen, die zahllose Todesopfer forderten.

Acht Jahre Bauzeit

Nach achtjähriger Bauzeit wurde der Ems-Jade-Kanal am 5. Juni 1888 offiziell eröffnet. Die vermeintliche „Kuhrinne“ entwickelte für die Ostfriesen bald zu einer echten Lebensader. Sogar in einen literarischen Klassiker hat der Ems-Jade-Kanal Eingang gefunden. Egon Erwin Kisch bereiste ihn Anfang der 1920er-Jahre per Schiff und hielt seine Eindrücke in seinem berühmten Buch „Der rasende Reporter“ fest.

Der Liedermacher Hannes Flesner, der 1928 in der Nähe der 1886 in Betrieb genommenen Schleuse am Kukelorum in Rahe geboren wurde, hat während seiner Kindheit in den 1930er-Jahren ebenfalls viel Zeit am Ems-Jade-Kanal verbracht. Seine Erlebnisse von damals verarbeitete er später in einem seiner plattdeutschen „Schgansongs“ mit dem Titel „Bi ‚t Kukelorum bi’t Rahster Verlaat“, das 1974 auf dem Album „Nei hum, Rieka, is Damenwahl“ erschien.

Eine andere besondere Schleuse befindet sich in Emden. Sie wurde 1887 nach zehnmonatiger Bauzeit errichtet und ab 1911 von zwei auf vier Kammern erweitert, um den Ems-Jade-Kanal mit dem Emder Stadtgraben, dem Fehntjer Tief und dem Falderndelft zu verbinden. Bis heute gilt die Emder Kesselschleuse damit als europaweit einzige Konstruktion ihrer Art. Sie wurde in den 1980er-Jahren aufwendig saniert und steht unter Denkmalschutz. Gleiches geschah von 2005 bis 2007 mit der Schleuse am Kukelorum, wo man die alte Drehbrücke durch eine Klappbrücke ersetzte.

Neben seiner strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung als Bindeglied zwischen Emden und Wilhelmshaven half der Ems-Jade-Kanal, die beiden Häfen schlickfrei zu halten und trug darüber hinaus maßgeblich zur Entwässerung der ostfriesischen Zentralmoore bei, was die Gründung neuer Siedlungen wie Marcardsmoor oder Wiesmoor ermöglichte. Verbindungskanäle schufen 1899 und 1924 jeweils den Anschluss an den Dortmund-Ems-Kanal und die Jümme. Die Vernetzung belebte das Transportwesen auf dem Wasserweg spürbar. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden jährlich zwischen 100000 und 200000 Tonnen auf dem Ems-Jade-Kanal befördert. Nach 1945 verlor der Schiffsfrachtverkehr dann zunehmend an Bedeutung bis er abgesehen von einer Umschlagstelle in Bangstede und einem Betonwerk am Auricher Hafen fast komplett eingestellt wurde.

Stattdessen entwickelte sich der Ems-Jade-Kanal zu einem beliebten Tummelplatz für Freizeitaktivitäten. Auch das hat eine lange Tradition, wie der folgenden Passage aus Herbert Iherings Kindheitserinnerungen zu entnehmen ist: „Aber im Winter fing am Alten Hafen wieder ein neues, ja erst das wahre Leben an. Denn nun begann die Schlittschuhzeit. Wir konnten unsere Schlittschuhe zu Hause anschnallen, brauchten nur wenige Schritte über das Pflaster zu balancieren, die Böschung hinunter zu purzeln und hätten von unserem Kinderzimmer aus, wären wir nicht zu klein gewesen, direkt nach Emden und auf der anderen Seite nach Wilhelmshaven laufen können. So glitten wir nur zum Neuen Hafen. Hier empfing uns die blaue Weite, der unendliche Himmel und der Wind vom Meere. Der Schneestaub fegte über die Fläche dahin, die Röcke und Mäntel flogen, und die Töne der Bataillonskapelle waren uns schon aus der Ferne entgegengetragen worden.“

Wenn es wärmer war, wurde der Ems-Jade-Kanal, an dem sich auch einige der ersten Badeanstalten auf der ostfriesischen Halbinsel befanden (z.B. in Aurich und Wilhelmshaven), früher ausgiebig zum Schwimmen und Planschen genutzt. Mittlerweile ist das behördlicherseits zwar nicht mehr erlaubt. Dafür sind hier aber nun regelmäßig Wassersportler von Ruderern bis hin zu Bootjefahrern unterwegs. Diverse Schiffstouren, Angelplätze, Paddel- und Pedalstationen sowie Rad- und Fußwanderwege an den Ufern runden das aktuelle Freizeitangebot ab.