Erst Kontrolle verloren, dann zugestochen
Das Landgericht Aurich verhandelt die Anklage wegen Totschlags gegen einen 38-jährigen Norder.
Norden Der 38-jährige Norder, der am 15. Februar im elterlichen Wohnhaus in Tidofeld seine Mutter mit 37 Messerstichen tötete, ist psychisch schwer krank. Das stellte der psychiatrische Sachverständige Wolfgang Trabert im Schwurgerichtsverfahren wegen Totschlags vor dem Landgericht Aurich fest.
„Er hat bis Ende 2023 ein ganz normales Leben geführt“, sagte der Gutachter. Der Norder ging seiner Arbeit nach, hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, führte partnerschaftliche Beziehungen. Drogen und Alkohol spielten in seinem Leben nie eine große Rolle.
Anfang dieses Jahres änderte sich plötzlich alles. Es begann damit, dass der 38-Jährige unter Bauchschmerzen litt und sich zunehmend unwohl fühlte. Er nahm rapide an Gewicht ab. Ärztliche Konsultationen blieben erfolglos. Eine Ursache für die Beschwerden konnte nicht gefunden werden.
„Der Angeklagte vermutete einen Zusammenhang mit seinem Arbeitsplatz“, erklärte der Sachverständige. „Es war nur eine Vermutung.“ Doch zu dieser Vermutung kamen andere hinzu. In seiner Gedankenwelt tauchte plötzlich wieder ein Dealer auf, mit dem er früher zu tun hatte. Er hatte den Verdacht, dass er verfolgt werde und man ihm nach dem Leben trachte. Das weitete sich sogar auf seine Eltern aus. Der Vater vergifte sein Essen und seine Zigaretten, mutmaßte der Norder. Und seine Mutter stecke wohl mit dem Dealer unter einer Decke. Alle möglichen alltäglichen Begebenheiten wurden uminterpretiert und in dieses Denkmuster eingefügt. Es entwickelte sich eine „Wahnstimmung“, wie Trabert es bezeichnete.
Der Verfolgungswahn nahm zu
„Die uns umgebende vertraute Umwelt verliert ihre Selbstverständlichkeit“, erläuterte der Gutachter anschaulich die Entwicklung der psychotischen Wahrnehmung. „Wir wissen nicht mehr genau, was die Dinge, die passieren, bedeuten. Falsche Hypothesen gewinnen immer mehr Bedeutung.“ Ein Abgleich mit der Realität sei nicht mehr möglich. „Zufall wird ausgeschlossen. Alles wird mosaikartig zum Gesamtbild zusammenfügt.“ Irgendwann sei dann der Punkt gekommen, wo der Norder sein Mosaik nicht mehr verlassen konnte.
In den Tagen vor der Tat spitzte sich die Lage immer mehr zu. Der 38-Jährige schlief kaum noch, flüchtete kurzzeitig aus dem Elternhaus, kehrte aber zurück, als er sich von Drohnen verfolgt fühlte. Alle verhielten sich seiner Ansicht nach merkwürdig auffällig: Polizisten, Mitarbeiter der Norder Psychiatrie, wo er eine Nacht verbrachte.
Am Tattag muss etwas passiert sein, dass ihn zur „Weißglut“ trieb. „Er versteht nicht, wie es dazu kommen konnte“, berichtete Trabert vom Gespräch mit dem Angeklagten. „Das sei nicht er gewesen. Es müsse was im Tee oder in der Zigarette gewesen sein, das ihn so verändert hat und die Tat begehen ließ“, hatte der Norder dem Sachverständigen gesagt.
„Es hat also einen Tropfen gegeben, der das Fass zum Überlaufen brachte?“, fragte Richter Björn Raap nach. „Ja. Es muss etwas vorausgegangen sein, etwas, das starke Emotionen ausgelöst hat. Aber was es war, wissen wir nicht“, antwortete der Gutachter. Bei der Tat sei die Steuerungsfähigkeit beim Norder aufgehoben gewesen.
Die psychotische Erkrankung dauere beim 38-Jährigen immer noch an. Auch in der Untersuchungshaft fühle er sich verfolgt und bedroht. Der Sachverständige sah deshalb eine echte Gefahr: „Der Verfolgungswahn hat sich erweitert. Er betrifft nicht nur die Familie. Es werden immer mehr einbezogen. Es kann eine neue eruptive Entladung erfolgen.“ Wegen dieser Gefahr weiterer Taten müsse der Norder dringend behandelt und in einer forensischen Klinik untergebracht werden.
Der Prozess wird fortgesetzt.