Was wurde aus den Schülern, die vor 120 Jahren in Norden ihr Abi gemacht haben?
Auf Verdacht ersteigert: Erst vor gut einem Monat fand Christine Schmutzler-Schaub endlich Zeit, sich etwas näher mit dem Inhalt der Abi-Festschrift zu beschäftigen.
Norden Zunächst wusste Christine Schmutzler-Schaub nicht wirklich, was für eine „alte Norder Festschrift“ sie da auf Verdacht im Internet ersteigert hatte. Als sie die Lieferung auspackte, staunte sie dann nicht schlecht. Es handelte sich um eine von Schülern erstellte Abi-Zeitung aus dem Jahre 1904 vom Ulrichsgymnasium. Dort waren sie und mehrere aus ihrer in Norden beheimateten Familie Schoolmann einst zur Schule gegangen. Vor rund einem Monat hat sich die 58-jährige Medizinerin, die jetzt in der Nähe von Kassel lebt, auf Spurensuche begeben. Die meisten der in Kurrentschrift verfassten Texte der Abi-Zeitung konnte sie dank tatkräftiger Unterstützung diverser historisch interessierter Mitglieder aus sozialen Netzwerken inzwischen entziffern. Trotzdem sind immer noch Fragen offen.
Christine Schmutzler-Schaubs eigene Abi-Zeit liegt nicht ganz so weit zurück. Sie hat 1985 ihren Abschluss am Ulrichsgynmasium gemacht. Ein paar Jahre später folgte ihr jüngerer Bruder. Zuvor hatten bereits die beiden Eltern dort ihre Reifeprüfung erfolgreich absolviert und beinahe auch eine der Großmütter, die 1928 zu den ersten Abiturientinnen gehört hätte. Allerdings musste sie anstelle eines Bruders vorzeitig abgehen, weil die Familie nur Schulgeld für ein Kind am Gymnasium aufbringen konnte. Die alte Abi-Festschrift lag lange bei Christine Schmutzler-Schaub in der Schublade, bis sie wegen einer durch eine Ellenbogenverletzung bedingten Arbeitsunfähigkeit endlich Muße fand, sich etwas intensiver mit dem Heft und dessen Inhalt zu befassen. Sie scannte die Texte mit Transkribier-Programmen und kontaktierte im Internet Gruppen, die sich mit Norder Stadtgeschichte, alten Schriften und Kirchenbuchlatein beschäftigen.
Themen wie heute
„Festzeitung zur Abschiedskneipe der Mulis des königl. Ulrichsgynmasiums zu Norden, Ostern 1904“, ist auf der Titelseite der Abi-Festschrift zu lesen. Die Phase zwischen Abitur und Beginn des Studiums nannte man früher auch „Maultierzeit“, daher die Bezeichnung „Mulis“. Ein Großteil der Texte sind Umdichtungen populärer Volksweisen, in denen die Abiturienten entweder sich selbst oder ihre Pauker auf die Schippe nehmen.
Bei den Schülern stehen die „klassischen“ Teenager-Themen „Wein, Weib und Gesang“ im Vordergrund. „Drum vergnügt die Gläser winken, trinken lasst uns, Kinder, trinken“, heißt es gleich zu Beginn im Begrüßungslied zur Melodie von „An der Saale hellem Strande“. Die Lehrer ernten nicht nur Lob, sondern zum Teil kräftigen Tadel: „Herr Heindrichs meint gut es, dran zweifeln wir nicht. Doch hassen wir sehr seine Lehre. Denn jegliche Stunde fast sprach er von Pflicht und immer von Fleiß und von Ehre.“ Wie den Stundenplänen zu entnehmen ist, unterrichtete besagter Oberlehrer Heindrichs seinerzeit am Ulrichsgymnasium Turnen sowie Englisch und Französisch. Deutlich mehr Gewicht hatten jedoch die Altsprachen Griechisch und Latein. Homer und Horaz tauchen sogar als eigenständige Fächer auf. Das schlägt sich ebenfalls in der Abi-Zeitung nieder, die sich in einem Text ironisch mit Horaz und dessen Schulzeit auseinandersetzt.
Lateinexperten gesucht
Die lateinischen Zitate würde Christine Schmutzler-Schaub am liebsten zur Sicherheit nochmals von kompetenter Seite gegenchecken lassen. Und es gibt einen plattdeutschen Text über „mien Heimatland buten an de Waterkant“, an dem sich Experten wie KI-Programme bisher die Zähne ausbeißen. Hier werden noch Fachleute gesucht, die beim „Entschlüsseln“ helfen. Christine Schmutzler-Schaub würde das komplette Abi-Heft von 1904 gern irgendwann mit einer „lesbaren“ Transkription und möglichst umfassenden Hintergrundinformationen veröffentlichen. Deswegen interessiert sie sich auch für die Biografien der Schüler von damals.
Bislang bekannt
Diese sechs Abiturienten von 1904 sind identifiziert:
Johann Arens (*30. September 1883) war der Sohn eines Landwirts aus Süderneuland. Er wollte nach dem Abitur Jura studieren und ist vermutlich sehr früh (1905 oder 1910) verstorben.
Focko (Fokko) Bruns, (*17. Januar 1884) war ein Sprössling der Familie Bruns, die die Mühle in Hage betrieben hat. Er wollte klassische Philologie studieren und könnte vielleicht Lehrer geworden sein. Ein solcher Name taucht in einem Altonaer Schulverzeichnis von 1910/1911 auf.
Johannes Fraesdorff (*30. Juli 1885) studierte Medizin und praktizierte ab 1937 als Hilfsarzt des Staatlichen Gesundheitsamtes Leer auf Borkum. 1953 wurde er mit dem Verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Personalakten von Johannes Fraesdorff befinden sich im Auricher Landesarchiv. Darin steht u.a., dass er ab 1937 NSDAP-Mitglied war und vorher der DNVP angehört hatte. Er war kein Soldat im Zweiten Weltkrieg und galt anschließend als entlastet.
Nikolaus Hicken (*2. November 1886) war sehr wahrscheinlich ein Sohn des Esenser Uhrmachers Andreas Adolf Hicken. Er wollte nach dem Abitur ebenfalls klassische Philologie studieren.
Erich Nott (*21. April 1883) war der Sohn eines Marinebaurats aus Wilhelmshaven. 1904 begann er ein Jura-Studium in Tübingen und arbeitete danach in Celle als Gerichtsassessor. Vom 3. Oktober 1938 bis 4. Juni 1943 war er in Wilhelmshaven als Marineintendant für die Organisation und Personalabteilung zuständig.
Friedrich Rosenberg (*25. Februar 1884) war der Sohn eines Försters aus Berum.
Wer ergänzende Informationen beisteuern möchte, kann sich an folgende E-Mail-Adresse wenden: christine.gerd@t-online.de.