Nach Stich ins Herz: Hohe Haftstrafe gefordert
Im September begann der Prozess, heute soll das Urteil fallen. Foto: Ute Bruns
Aurich/Weener Einen tödlichen Herzstich erlitt am 27. Januar ein 37-jähriger Mann aus Weener im Rahmen einer Auseinandersetzung in seiner Wohnung. Im Schwurgerichtsverfahren vor dem Landgericht Aurich wegen Totschlags wurden nun die Plädoyers gehalten. Für Oberstaatsanwältin Annette Hüfner stand fest, dass der 52-jährige Angeklagte insgesamt viermal auf das Opfer einstach und dabei auch die tödliche Verletzung verursachte. Sie beantragte, den Angeklagten aus Weener zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und acht Monaten zu verurteilen. Der Verteidiger hingegen blieb bei seiner Ansicht, dass sein Mandant nur zweimal in Notwehr auf die Beine zielte. Die lebensgefährlichen Stiche in Brust und Rücken müsse ein anderer gesetzt haben. Folgerichtig forderte er einen Freispruch für seinen Mandanten.
Die Oberstaatsanwältin hatte bei den Plädoyers den Vortritt. In einem fast einstündigen Vortrag befasste sie sich mit den zahlreichen Zeugenaussagen, rekonstruierte die Zeitabläufe, die anhand von Überwachungskameras die Bewegungen des Angeklagten, aber auch einer Vielzahl von Zeugen nachzeichneten. Auch die Befunde der rechtsmedizinischen und psychiatrischen Sachverständigen flossen in die Betrachtung der Anklagevertreterin ein. Für sie ergab sich ein rundes Bild.
Demnach versuchte das spätere Opfer, den Angeklagten mit einem Fleischerbeil in der Hand zu vertreiben, als der mit dem Fahrrad vor seiner Wohnung vorfuhr. Der Angeklagte wollte nach eigenen Angaben bei dem 37-Jährigen Marihuana erwerben.
Der Angeklagte wusste nicht, dass es kurze Zeit zuvor schon eine blutig endende Auseinandersetzung vor der Wohnung des Angeklagten gab. Der später getötete Mieter wollte nur seine Ruhe und keine ungebetenen Gäste in seiner Wohnung haben. Doch der Angeklagte habe sich nicht vertreiben lassen, sondern sei vielmehr dem Opfer in dessen Wohnung gefolgt. Dass der Angeklagte der Angegriffene gewesen sei, glaubte Annette Hüfner anhand der Zeugenaussagen und des Befundes der Rechtsmedizinerin nicht. Denn wenn der 37-jährige Wohnungsinhaber tatsächlich so oft und vehement auf den Angeklagten eingeschlagen habe, hätte dessen Verletzungsbild ganz anders aussehen müssen, folgte die Oberstaatsanwältin den Ausführungen der Rechtsmedizinerin. Die Darstellung des Angeklagten sei eine reine „Schutzbehauptung“, so die Oberstaatsanwältin.
Die Obduzentin hatte auch die von Zeugen und dem Angeklagten geschilderten Auseinandersetzungssituationen rekonstruiert. „Die Erreichbarkeit von Rücken und Brust war in allen Kampfsituationen mit dem Messer gegeben“, sagte Annette Hüfner. Der Angeklagte hatte behauptet, sein Messer in Notwehr gezogen und nur zweimal in Richtung Beine gestochen zu haben.
Für die Vertreterin der Staatsanwaltschaft stand fest, dass der Angeklagte in dem hochdynamischen Kampfgeschehen mit Tötungsvorsatz gehandelt habe. Eine Frage konnte aber auch die Oberstaatsanwältin nicht beantworten, nämlich die nach der Motivation des Angeklagten, das Opfer zu töten. „Es konnte kein einsichtiger Beweggrund für die Tat festgestellt werden“, räumte Annette Hüfner ein.
Ebenso wie sie arbeitete auch Verteidiger Folkert Adler mit den Zeitabläufen, kam aber zu ganz anderen Schlüssen. Die Rechtsmedizinerin hatte sich festgelegt, dass das Opfer spätestens eine Minute nach dem tödlichen Herzstich das Bewusstsein verloren haben muss. Doch als eine Zeugin den Rettungs-Notruf wählte, habe der Angeklagte die Wohnung schon seit einigen Minuten verlassen, rechnete der Verteidiger vor. Die Zeugin habe der Leitstelle gesagt, dass das Opfer noch ansprechbar sei. Demnach müsse ein anderer den tödlichen Stich gesetzt haben, nachdem der Angeklagte gegangen sei.
Die Anwältin der Eltern des Opfers, die als Nebenkläger zum Prozess zugelassen sind, schloss sich der Oberstaatsanwältin an, brachte aber auch ein Thema auf, das bisher im Prozess überhaupt noch nicht zur Sprache kam. Es ging um die Eltern, die keinen Fuß in den Gerichtssaal setzen konnten, weil sie dazu psychisch nicht in der Lage sind. „Die Familie steht immer noch tief unter Schock“, sagte die Anwältin. Vor allem der Vater musste große Qualen aushalten. Denn er war kurz nach der Tat in der Wohnung und musste den Anblick seines kurze Zeit zuvor getöteten Sohnes ertragen. Um diesen traumatischen Schock zu verarbeiten, musste er therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.
Das Urteil wird heute verkündet.