Prozess um Stich ins Herz: Opfer bleibt gesichtslos

Von Martina Ricken

Viele Spekulationen und wenig Empathie machen den Fall vor dem Landgericht speziell

Aurich/Weener Der 37-jährige Mann, der am 27. Januar in seiner Wohnung in Weener durch einen Stich ins Herz von einem 52-jährigen Weeneraner getötet worden sein soll, war von einem sehr heterogenen Umfeld umgeben. Diesen Eindruck legten die Zeugenvernehmungen an den ersten beiden Verhandlungstagen nahe.

Da sind zum einen die Nachbarn, die ihrer Arbeit nachgehen und sich um Familie und Garten kümmern. Der Cousin eines Nachbarn war es, der beherzt eingriff und die körperliche Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und dem Opfer beendete.

Auf der anderen Seite zeichnete sich ein Milieu ab, in dem sich quasi alle untereinander kannten, aber im Grunde jeder sich selbst der Nächste war. Drogen, Alkohol und Gewalt schienen für einige dieser Menschen aus dem Milieu zum Alltag und damit zur Normalität zu gehören. So erzählte beispielsweise die Freundin des Angeklagten – als sei es das Normalste von der Welt -, dass sie sich an jenem Tag mit einem Mann geschlagen habe. Ein Dritter habe diesen Mann aber abgeschirmt, sodass sie am Ende verprügelt worden sei und im Gesicht sechs Knochenbrüche erlitten habe. Sie erzählte diese Geschichte völlig cool und abgeklärt. Wehleidigkeit konnte man ihr tatsächlich nicht nachsagen.

Sie gab ebenso wie ihr angeklagter Freund an, dass das Opfer mit Drogen gedealt habe. Dann stellte sie Behauptungen auf, denen die Schwurgerichtskammer nicht nachgehen wollte, weil sie im Raum der Gerüchteküche anzusiedeln waren. Angeblich hatte sich eine Zeugin, die nach der Auseinandersetzung einen Rettungswagen gerufen und sich um den tödlich verletzten 37-Jährigen gekümmert hatte, der Drogen des Opfers bemächtigt und dessen Geschäfte weitergeführt. Gleichzeitig würde sie nun einen anderen Zeugen, der sich nach dem Kampf kurzzeitig in der Wohnung aufgehalten hatte, mit Drogen im Knast versorgen und ihm Geld zukommen lassen, behauptete die Freundin des Angeklagten.

Weder sie noch der Verteidiger haben es ausgesprochen. Aber es wird unterschwellig suggeriert, dass es vielleicht auch dieser Mann gewesen sein könnte, der dem Opfer den tödlichen Stich versetzte. Konkrete Anhaltspunkte gibt es dafür nicht. Es handelt sich bislang um pure Spekulation.

Offenkundig ist hingegen die Empathielosigkeit, die – bis auf wenige Ausnahmen – von den Zeugen aus dem Umfeld des Opfers gezeigt wird. Eine 62-jährige Frau, die Augenzeugin des Kampfes geworden war, war die Erschütterung deutlich anzumerken. Auch der Frau, die den Notruf absetzte, merkte man so etwas wie Entsetzen an. Sie war früher mit dem 37-Jährigen liiert, pflegte nach dem Ende der Beziehung weiterhin ein freundschaftliches Verhältnis zum Opfer. Die Reaktionen dieser beiden Frauen stellten eher die Ausnahme dar.

Einem anderen Mann, ebenfalls Augenzeuge und angeblicher Freund des Opfers, schien der Tod des Weeneraners nicht sonderlich nahezugehen. Überhaupt hat der 37-Jährige bislang von keinem Zeugen ein Gesicht erhalten. Niemand sprach darüber, was für ein Mensch er war, welche Stärken und Schwächen er hatte. Das Opfer ist nicht als menschliches Subjekt gegenwärtig, sondern nur als Objekt eines Strafprozesses. Das macht seinen sinnlosen Tod noch trauriger.