Wie werden Sturmfluten früh genug erkannt?

Von Keno Klaassen

Keine Sirenen, keine blinkenden Lichter – im Sturmflutwarndienst in Norden läuft der Schutz der Küste vor allem über Zahlen, Modelle und Prognosen. So funktioniert die Arbeit hinter den Kulissen.

Die Betriebsstelle Norden des NLWKN befindet sich bis zum Umzug in die „Inselsicht“ in Norddeich noch in der Jahnstraße.

Norden Die Bildschirme flackern zwar, aber spektakulär sieht es hier nicht aus. Keine blinkenden Warnlichter, keine dramatischen Sirenen – nur Zahlen, Karten, Linien und Fakten. Und doch steckt hinter den Daten, die im Sturmflutwarndienst des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) in Norden zusammenlaufen, ein wichtiger Auftrag: rechtzeitig zu erkennen, wann aus einem normalen Hochwasser eine Sturmflut und somit eine Gefahr für die Küste und die Menschen wird. Gerade in den Wintermonaten ist das besonders wichtig. In den vergangenen Tagen standen viele Häfen an den Küsten unter Wasser. Der Wind tobte, das Wasser floss aufs Festland. In solchen Zeiten haben die Mitarbeiter des Sturmflutwarndienstes in Norden viel zu tun.

Was ist eigentlich eine Sturmflut?

Nicht jedes Hochwasser ist gleich eine Sturmflut. Erst wenn mehrere Faktoren zusammentreffen, sprechen Fachleute von diesem Naturphänomen: Drückt starker Wind – meist aus Nordwest – das Wasser der Nordsee an die Küste und fällt dieser Effekt mit dem regulären Hochwasser der Gezeiten zusammen, steigt der Pegel überdurchschnittlich an. Maßgeblich ist dabei, wie stark das Hochwasser über dem mittleren Stand liegt. Vor Norderney gilt: Ab 93 Zentimetern spricht man von einer leichten Sturmflut, ab 195 Zentimetern von einer schweren und ab 275 Zentimetern von einer sehr schweren.

Doch so klar diese Zahlen erscheinen, einheitlich sind sie nicht. Denn je nach Standort und Berechnung unterscheiden sich die Grenzwerte. Jeder Dienst arbeitet anders, erklärt Heiko Knaack, Aufgabenbereichsleiter im Sturmflutwarndienst, im Gespräch mit dem KURIER. Der NLWKN etwa ordnet eine leichte Sturmflut dann ein, wenn sie bis zu zehn Mal im Jahr vorkommt. Eine schwere tritt im Durchschnitt alle zwei Jahre auf, eine sehr schwere im Mittel nur alle 20 Jahre.

Ganz anders wertet das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH): Es setzt auf eine für die deutsche Nordseeküste einheitliche Berechnung, während die Verfahren des NLWKN stärker auf regionale Besonderheiten zugeschnitten sind. So liegen etwa die Grenzwerte für Emden anders als die für Norderney.

Wie wird eine Sturmflut erkannt?

Um Sturmfluten rechtzeitig zu erkennen und die Bevölkerung frühzeitig warnen zu können, stehen den Experten verschiedene Verfahren zur Verfügung. „In Norden nutzen wir ein statistisches Modell“, erklärt Knaack. Dabei greift man auf die Prognosen des Deutschen Wetterdienstes zurück und verwendet deren Angaben zu Windgeschwindigkeit, Windrichtung und Luftdruck. Diese Daten werden in ein selbst entwickeltes Computerprogramm eingespeist, das auf Grundlage historischer Werte berechnet, wie stark der mittlere Hochwasserstand voraussichtlich abweicht. Liegt die prognostizierte Differenz über einem kritischen Wert, beispielsweise den 93 Zentimetern vor Norderney, wird eine Warnung ausgegeben.

Der große Vorteil dieses Modells: Es benötigt vergleichsweise wenig Rechenleistung. Anders als beim numerischen Modell: dabei wird ein komplexes Verfahren genutzt, bei dem Nordsee und Atlantik in feine Raster aufgeteilt werden. Jeder einzelne Punkt in diesem Modell wird berechnet – eine Methode, die äußerst präzise, aber auch sehr rechenintensiv ist.

Der NLWKN in Norden ist für die gesamte niedersächsische Nordseeküste verantwortlich – mit Schwerpunkt auf die Inseln, wobei Norderney als Referenz und Indikator gilt. Neben den ostfriesischen Inseln betreut der NLWKN auch Bensersiel, Emden, Wilhelmshaven und Bremerhaven mit den dortigen Gewässern. Insgesamt zu fünft wertet das Team täglich Daten aus und prognostiziert so den Wasserstand für die kommenden sieben Tiden, also vier bis fünf Tage. Sollte der Strom einmal ausfallen, ist die Betriebsstelle gut gerüstet: Eine unterbrechungsfreie Stromversorgung hält die Computer auch bei einem Komplettausfall für einige Stunden am Laufen. Außerdem werden, sofern die Wetterlage es erfordert, auch an Wochenenden mehrmals täglich neue Prognosen erstellt.

Fehler und deutliche Abweichungen seien laut Knaack eher die Ausnahme – im Durchschnitt sagt der Sturmflutwarndienst den Wasserpegel mit einer Abweichung von 20 Zentimetern voraus. Einzelfälle mit größeren Schwankungen könnten zwar vorkommen, das sei jedoch bei allen Diensten der Fall und keine schlecht durchgeführte Prognose des NLWKN, so Knaack.

Wie wird die Bevölkerung vor Sturmfluten gewarnt?

Der NLWKN prognostiziert den Wasserstand und mögliche Sturmfluten. Doch wie genau werden die Bürger nun informiert? Neben einem E-Mail-Verteiler für verschiedene Behörden und Akteure auf dem Festland und den Inseln können die Wasserstandsvorhersagen täglich auf der Internetseite des NLWKN eingesehen werden. Dort werden die einzelnen Eintrittszeiten des Tidehochwassers, die Abweichung zum Mittel und eine mögliche Gefährdungslage angezeigt. Wichtig dabei: Die Daten werden nicht ausschließlich durch einen Computer ermittelt. Zwei Mitarbeiter prüfen die Ergebnisse noch einmal, schätzen deren Genauigkeit ein und vergleichen sie mit den Vorhersagen anderer Dienste, erklärt Knaack.

Kommt es voraussichtlich tatsächlich zu einer Sturmflut, informiert der Landesbetrieb zunächst auf seiner Internetseite pegelonline.nlwkn.niedersachsen.de. Von dort werden die Daten automatisch an das landesübergreifende Hochwasser-Portal weitergeleitet. Außerdem werden die Bürgerinnen und Bürger aktiv über die Warn-Apps Nina und Katwarn informiert und gewarnt. Doch Knaack bleibt vorsichtig, was die aktiven Warnungen angeht: „Löst man den Alarm zu oft aus, stumpfen die Leute ab.“

Keine steigende Tendenz und ein ruhiger Winter

Von Anfang November bis jetzt gab es vor der niedersächsischen Küste lediglich drei leichte Sturmfluten. „Wir haben einen ganz ruhigen Winter gehabt“, so Knaack. Ausschläge gebe es aber immer: In einigen Jahren müsse oft gewarnt werden, in anderen weniger. Eine Tendenz lasse sich bislang nicht erkennen. Dass das Niveau des mittleren Tidehochwassers stetig steigt, sei normal. Dies liege noch an der vergangenen Eiszeit – rund 25 Zentimeter in den vergangenen 100 Jahren. Vom Klimawandel sei derzeit an der Küste noch nichts zu spüren. Laut Experten sei aber eine deutliche Anhebung des Tidehochwassers ab 2050 zu erwarten. Doch Knaack kann auch Entwarnung geben: „Der Küstenschutz ist wirklich gut aufgestellt.“ Die deutsche Infrastruktur sei mit dem Platz an den Küsten und den finanziellen Mitteln für die nächsten 100 bis 200 Jahre sehr gut gerüstet.