Wulf Preising aus Hage zeichnet Porträts von Obdachlosen
Künstler Wulf Preising malte insgesamt 48 Porträts von obdachlosen Menschen.
Hage Es ist rund 50 Jahre her, als er das Elend zum ersten Mal bewusst gesehen und wahrgenommen hat. Als ihm ein Fahrer die Stadtteile New Yorks zeigte, weniger die Touristenecken als das New York der Armen und Obdachlosen. „In allen reichen industrialisierten Städten gibt es sie“, sagt Wulf Prei-sing heute. Er ist durch die ganze Welt gereist, war in unzähligen Großstädten. Weiß, dass dort überall Menschen leben, die unter Brücken schlafen oder auf Parkbänken, die kein Zuhause haben. Ihnen hat der Hager noch einmal ein Gesicht gegeben – in 48 Porträts aus Kreide, Kohle und Graphit. 48 Geschichten, in denen Obdachlosigkeit vorkommt, 48 Geschichten, die trotzdem oder gleichwohl individuell und besonders sind.
„Das Elend, das will und kann man nicht sehen, wenn man jung ist. Dann will man das Leben sehen“, sagt Prei-sing rückblickend. Den das damals in New York Gesehene zwar schockte, es mitnahm, es aber in sich vergrub. Um es 2022 wieder hervorzuholen und neu, anders zu bearbeiten, zu verarbeiten. Er hat in seinem Leben vieles gemacht, ist studierter, promovierter Philosoph, war eine Größe der Funktionäre und Funktionsträger des Sports, war, so beschreibt er es auf einem kleinen Blatt Papier rund um die ebenfalls kleine erste Ausstellung im Haus von Ergotherapeut Nils Strumm in Hage „Weltreisender, Abenteurer, Manager“. Das Wort Künstler folgt auch – aber dieser Leidenschaft ist er erst im Alter so richtig nachgegangen.
Fotografie spielt eine große Rolle
Hatte schon in Abiturzeiten in Düsseldorf, so erzählt er im Pressegespräch, gemerkt, dass er die Welt besser begreifen kann, wenn er sie selbst „macht“. Heißt, sie im Bild festhält, sich ihr nicht nur mit einem einzigen Blick nähert, sondern sie fotografiert – analog versteht sich, zu Zeiten, als man sich noch konkret Gedanken machen musste, welchen Bildausschnitt man wählt, welche Blende, welche Zeit man einstellt. Licht und Schatten bedenkend – und die Endlichkeit eines Filmstreifens.
Digitales Fotografieren nennt Preising „blindes Fotografieren“, das war, das ist nicht seine Welt. Weil die Verführung groß ist, einfach den Auslöser zu drücken, auch hier nur einen Blick durch den Sucher zu werfen. Das aber kann in seinem Verständnis kein „Begreifen“ eines Bildes, einer Situation sein.
Das Thema Kunst also in den Hintergrund geschoben. Bis es ihn im Alter wieder einholte. Mit Malkursen, mit Workshops kam er der Kunst wieder näher. Dann war es ein amerikanischer Freund, der den Kontakt zu einem Fotografen herstellte. Der Obdachlose fotografiert. Womit die Brücke geschlagen war in die eigene Vergangenheit. Die Bilder waren wieder da – die von damals in New York und anderen Städten.
Preising lernte – begriff, dass Gesichter alles andere sind als symmetrisch. Von wegen Nase in der Mitte, Auge links, Auge rechts und passt schon… So passt: nichts. Preising hat es auch mit anderen Materialien und Techniken versucht, hat Öl-, Acryl-, Aquarellmalerei nicht nur in Kursen kennengelernt. Aber das Zeichnen mit Kreide, mit Kohle, auch mit dem Rötelstift – darin fühlt er sich wohl. Das Lebendige zeigen, das Konkrete, das Leben! Zeichnete Tiere. Und 2022 dann besagte Porträts nach den ihm zur Verfügung gestellten Fotos von Obdachlosen. Die ihn nicht mehr losließen, ihn fast zwanghaft Tag für Tag an den Zeichentisch zogen. Er selbst weiß heute kaum noch, wie ihm geschah, weil er merkte, wie er in diese Welt eintauchte, wie er, beim Zeichnen von Falten und Riefen, von dicken Schrunden und alten Gesichtern versuchte zu ergründen, was dahinter steckte. Welche Geschichte? Was sagte das Gesicht? „Ich hatte Angst“, sagt er heute: „Kann ich das?“ Dem gerecht werden, was er sah, was er spürte. Das mit eigenen Händen wiedergeben?
Und es gab eine weitere Frage: „Darf man das? Das Elend nehmen und etwas Schönes daraus machen?“
Obdachlosen Menschen in die Augen blicken
Nun, nicht jeder wird sagen, diese Porträts seien „schön“. Oder vielleicht gerade doch? Durch die Würde, die diese gezeichneten Gesichter ausstrahlen. Da ist der Blick, der einem begegnet. Preising sagt, er male den Blick, nicht die Augen. Das ist es wohl. Dass man merkt, wie er beim Arbeiten am Bild in die Tiefe gegangen ist, bestrebt, herauszuholen, was hinter der Fassade, der äußeren Hülle steckt. Das ist ihm meisterhaft gelungen. Sodass jetzt die Leute hinschauen, bewusst in diese Gesichter, diesen Blick aufnehmen, sich ihm stellen. Wer schaut einem Obdachlosen, den man in der Stadt sitzen, liegen oder stehen sieht, direkt ins Gesicht, in die Augen? Denkt an Würde?
Wulf Preising hat diesen Menschen auf diesem Weg neues Leben geschenkt. Mit Kreide, Kohle und Graphit. Zu sehen unter dem Titel: „New York, New York… alt, verloren, vergessen“ zwar nur auf wenigen ausgestellten Bildern in besagter Hager Ergotherapiepraxis an der Hauptstraße 4 – aber darüber kann jeder Interessierte auch Kontakt aufnehmen mit dem Künstler und die anderen 44 Gesichter studieren. Oder vielleicht sogar eines Tages in einer weiteren Ausstellung?