Bundestagswahl: Das braune Vermächtnis Ostfrieslands ist wieder da
Von wegen alles nur Protestwähler: Die meisten Ostfriesen, die jetzt die AfD wählten, haben dies wohl aus voller Überzeugung getan. Das sagt der Politikwissenschaftler Siebo Janssen. In Ostfriesland habe die NSDAP auch damals schon die besten Wahlergebnisse erzielt.
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Ein Prangermarsch in der Norder Innenstadt 1935: Eine Frau wird von der SA der Nationalsozialisten durch die Menge getrieben. © Niedersächsisches Staatsarchiv Hannover
Norden Siebo M. H. Janssen ist Politikwissenschaftler und Neuzeithistoriker, er arbeitet für mehrere Universitäten. Er kommt aus Bonn, wurde geboren in Köln und hat Wurzeln väterlicherseits in Esens. Er ist in Ostfriesland kein Unbekannter. Bei der KVHS Norden gibt er regelmäßig Seminare. Wir haben mit ihm über die Wahlergebnisse insbesondere in Ostfriesland gesprochen.
Hat Sie das Ergebnis der Bundestagswahl überrascht?
Karte
Eigentlich nicht. Ich bin davon ausgegangen, dass die Prozentzahlen für die AfD noch höher liegen würden, was mich nicht überrascht hat, war, dass der Osten weitestgehend an die AfD gefallen ist.
Es heißt: Wenn die Mitte versagt, erstarken die Ränder. Richtig?
Es ist tatsächlich ein sinniger Spruch und er ist auch richtig. Wenn die Mitte nicht mehr in der Lage ist, die Fliehkräfte der Gesellschaft zusammenzubinden, dann werden eben die Ränder stärker und radikalisieren sich immer mehr. Das haben wir in den letzten Jahren erlebt.
Aber ist es nicht erstaunlich, wie stark die Ränder geworden sind, Linke und AfD?
Die Linke ist meiner Meinung nicht demokratiefeindlich. Die AfD aber ist noch mal ein anderer Schnack, die ist ja mittlerweile durchgängig außerhalb des demokratischen Spektrums angesiedelt. Übrigens sehe ich die Tendenz auch beim BSW. Der Aufstieg der AfD lässt sich aus verschiedenen Faktoren erklären. Jede Gesellschaft hat einen latenten rechtsextremen Rand von 15 bis 20 Prozent. Diese Leute gehen aber häufig gar nicht zur Wahl oder wählen das kleinere Übel aus ihrer Sicht. Und in dem Moment, wo eine Partei auftaucht, die im Grunde ihre Gefühle anspricht und die sie für wählbar halten, dann gehen sie zu dieser Partei über und das ist jetzt die AfD. Das sind Leute, die sich aus unterschiedlichen Gründen von demokratischen Systemen abgewandt haben und die nicht für die Demokratie wiedergewinnbar sind. Das sind ca. 15 bis 20 Prozent der Gesamtwählerschaft. Darüber hinaus gehende Anteile für populistische bis extreme Parteien, stammen häufig von WählerInnen, die mit ihrer Wahl ein Zeichen gegen bestimmte politische Entwicklungen setzen wollen.
Dann mal Tacheles: Die vielen ostfriesischen AfD-Wähler: Sind sie Überzeugungstäter oder Protestler? Was ist denn da passiert?
Der eine ist ein historischer Grund. Man darf nicht vergessen, dass es in Ostfriesland früh eine relativ hohe Zahl von Wählern der Nationalsozialisten gab. Die NSDAP lag sehr früh über 30 Prozent.
Ehrlich?
Ja, tatsächlich. Also es gab einzelne Ortschaften, einzelne Teile der heutigen Landkreise, die wirklich tief nationalkonservativ und nationalsozialistisch waren. Wittmund zum Beispiel, dann aber auch Teile von Aurich, aber auch Orte in der Norder Gegend. Insgesamt schnitt die NSDAP in Ostfriesland immer besser ab als im Durchschnitt des Deutschen Reichs. Das ist wirklich kein unbekanntes Phänomen. Und nach 1945 sind viele zur SPD geschwenkt. Man hat sich selber ein Stück weit auch ein gutes Gewissen gemacht, kann ich mir vorstellen. Natürlich ist das alte Denken nie wirklich weggegangen und es bricht sich jetzt teilweise wieder auf und schafft der AfD einen Resonanzraum. Es werden verstärkt explizit deutsch-nationale und rechtsextreme Positionen hoffähig.
Und der andere Grund?
Es ist eine Angst vor der Zukunft. Es ist gar nicht so sehr die Gegenwart, sondern es ist eine Angst, was man auch häufig in Ostdeutschland spürt, und das ist vielleicht durchaus vergleichbar. Den Leuten selber geht es gar nicht schlecht, aber die Angst um die Zukunft ihrer Kinder, Enkel, Urenkel – die treibt sie dazu, sich zu radikalisieren. Wir haben eine globalisierte Welt mit vielen Unsicherheiten. All das führt dazu, dass die Leute einfache Lösungen suchen, und die bietet die AfD. Die Angst um VW und damit um die eigene, ganz persönliche Zukunft war dann noch ein weiterer Faktor, denn die Bedrohung, die man sonst nur aus dem Fernsehen kannte, stand plötzlich vor der eigenen Haustür.
Kurz vor der Wahl hat die Realschule Dornum eine Wahl simuliert. Das Ergebnis: Die AfD hat die Mehrheit geholt. Warum wählen Siebt- bis Zehntklässler rechtsextrem?
Das ist absolut erschreckend, aber das ist natürlich ein Punkt, den Sie bei der Europawahl auch gehabt haben. Dort war die AfD die stärkste Partei bei den unter 21-Jährigen. Bei der jetzigen Bundestagswahl war es dann aber Die Linke, gefolgt von der AfD. Das wechselt immer wieder mal. Das hat auch etwas damit zu tun, welche Partei gerade in den Sozialen Medien besser performt.
Sind es wirklich nur die sozialen Medien?
Wir haben zunehmend ein Stadt-Land-Gefälle und nicht nur ein Ost-West-Gefälle. Die ländlichen Regionen fühlen sich abgehängter, die ländlichen Regionen fühlen sich benachteiligter, haben mehr mit Zukunftsängsten zu tun. Das führt zu einer Radikalisierung. Die städtischen Milieus haben natürlich in der Regel akademische Berufe, sind abgesicherter. Sie neigen deswegen eher dazu, linksliberal zu wählen.
Ist es den Menschen denn einfach egal, dass Teile der AfD rechtsradikal, antisemitisch, ausländerfeindlich und rassistisch sind?
Vielleicht kann ich da mit einem kleinen Zitat aus dem US-amerikanischen Wahlkampf antworten. Es wurden US-Amerikaner befragt. An einer Tankstelle wurde ein sehr durchschnittliches Paar gefragt, ob ihnen denn nicht klar wäre, dass Trump alles, was im Grunde gelten würde in den USA, infrage stellt würde. Und dann sagte die Frau: „Doch, das wissen wir und ich weiß auch, dass Trump ein Idiot ist. Er wird uns und der Welt nicht guttun. Aber in seiner ersten Amtszeit kostet die Galone Benzin deutlich weniger als unter Joe Biden.“
Jetzt müsste Bertolt Brecht kommen...
...genau: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Auch in Deutschland ist es den Menschen inzwischen völlig egal. Sie wissen, dass die AfD eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei ist. Die wissen, dass die AfD antisemitisch ist, dass sie im Grunde Hass schürt. Aber trotz allem bietet sie die Möglichkeit, den demokratischen Parteien vorzuführen, dass aus ihrer Sicht etwas falsch in diesem Land läuft.
In Ostfriesland hat die AfD mit Arno Arndt einen Kandidaten aufgestellt, den niemand kannte und jetzt auch noch nicht kennt. Er bekam – aus seiner Sicht – Traumergebnisse.
Das ist das, was ich eben sagte: Es ist den Leuten eigentlich egal, was die von sich geben. Es muss auch nicht besonders sinnig sein, und es muss auch nicht logisch sein. Die AfD ist da und die AfD gibt diesem Missfallen, der Unzufriedenheit, der Wut, die die Leute subjektiv empfinden, eine Stimme. Und deshalb können sie tatsächlich fast einen Besenstiel aufstellen, und der wird gewählt.
Das hat man hier früher immer nur über die SPD gesagt. Zurück nach Berlin: Wie groß ist die Verantwortung von CDU, SPD, Grünen und FDP für den jetzigen Zustand?
Zwei Punkte sind mir wichtig. Ich denke, wir haben uns viel zu sehr auf die Diskurse der AfD in den letzten Jahren eingelassen was Migration und Flucht angeht. Flucht und Migration wurde immer nur als Problem angesehen und nicht mehr als etwas, das man konstruktiv lösen kann. Der Flüchtling an sich wurde zum Problem erklärt. Und das hat natürlich der AfD in die Hände gespielt. Es ist nämlich genau das Narrativ, was sie immer gesetzt hat. Die Aktion von Herrn Merz, völlig unwirksame Beschlüsse mit der AfD zu fassen, hat die AfD legitimiert. Diese Politik führt dazu, dass die Leute sagen: Bevor wir die Kopie wählen, wählen wir lieber das Original, weil das Original natürlich sehr viel glaubwürdiger ist aus der Sicht der WählerInnen. Und in einem Punkt hat die AfD ja Recht. Das meiste von dem, was die CDU heute in der Migrationspolitik und in minderem Maße auch SPD und Grüne fordern, ist von der AfD übernommen worden. Das heißt also, die AfD hat tatsächlich den Anspruch auf Originalität in der Frage und die anderen Parteien versuchen, um nicht noch mehr Wähler an die AfD zu verlieren, diese Inhalte zu kopieren. Damit stärken sie aber am Ende nur die AfD. Dass die CDU/CSU (und die FDP) gemeinsame Anträge mit den Stimmen der AfD beschlossen und dies auch mit einem Gesetzentwurf versucht hat, ist eigentlich der größte Gefallen, den man der AfD tun konnte und zugleich die größte Tragik der CDU/CSU, weil die AfD nämlich die CDU/CSU zerstören will.
Es gibt Politiker, die sagen: Wir haben jetzt die Situation x-1. Also: Noch eine verkorkste Regierung mehr, und wir landen da, wo die Niederlande, Italien und Österreich jetzt schon sind: Sie haben rechtsextrem Mehrheiten. Korrekt?
Ja, unbedingt. Das ist auch meine Befürchtung und deshalb wird es sehr, sehr schwer. Wir werden jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach wieder in eine Große Koalition gehen. Sie kann von beiden Seiten nur wenig bewegen. Die SPD ist sowieso auf den Tiefpunkt ihrer Geschichte angelangt, die CDU hat auch kein Traumergebnis erzielt. Das führt dazu, dass im Grunde wahrscheinlich beide Seiten darum ringen werden, dass sie nicht zu viele Kompromisse machen müssen. Das wird in der Folge dazu führen, dass die AfD sich darauf einschießt und massiv davon profitieren wird bei der nächsten Wahl. Ich sehe für 2029, wenn die Regierung denn so lange halten sollte, wirklich sehr, sehr schwarz und ich fürchte, dass sowohl die CDU, CSU als auch die SPD jetzt schon die großen Verlierer der nächsten Wahlen sind.
Haben Sie noch eine gute Nachricht bitte?
Herr Merz hat verstanden, dass Deutschland wieder der Motor in Europa werden muss.
Hat er es verstanden, oder wurde es ihm von Donald Trump eingeprügelt?
Das ist egal. Das Ergebnis zählt. Von Deutschland müssen wieder europäische Impulse ausgehen, das hat er meines Erachtens klar begriffen und da setze ich eine Hoffnung darin, dass mit einem Kanzler Merz Deutschland im europäischen und internationalen Raum wieder mehr Bedeutung erlangen wird und die EU dadurch als Ganzes auf der internationalen Bühne wieder gestärkt wird. Ich glaube, da ist der Groschen gefallen. Trump hat ihm den Tritt in den Hintern gegeben.
Das ist ein schöner Schlusssatz.
Bitte nicht zitieren!
Doch.