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7. September 2024, 12:00 Uhr

Die Polizei ist oft der Sündenbock für alle Missstände

Landesweit stagnieren die Zahlen, doch in Ostfriesland gab es 2023 deutlich mehr Angriffe auf Rettungs- und Einsatzkräfte als noch im Vorjahr. Thorsten Dirksen, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei in Ostfriesland, sagt: „Wir sind der Sündenbock für alles.“

Lesedauer: ca. 2min 48sec
Thorsten Dirksen, Chef der Gewerkschaft der Polizei für Ostfriesland

Thorsten Dirksen, Chef der Gewerkschaft der Polizei für Ostfriesland © Polizei Leer/Emden

Ostfriesland Die Polizeidirektion Osnabrück hat in 2023 253 Fälle von Gewalt gegen Polizeibeamte gezählt. Im Vorjahr waren es nur 203; das ist eine Steigerung um 25 Prozent. Ähnlich – wenn auch auf niedrigerem Niveau – ist die Lage bei gewaltvollen Angriffen auf Rettungskräfte. In 2023 wurden Sanitäter oder Feuerwehrleute 24 Mal tätlich angegriffen. Im Jahr zuvor waren es nur elf Fälle – eine Steigerung um 118 Prozent.

Landesweit dagegen stagnieren die Fälle bei 4467, wie Innenministerin Daniela Behrens Anfang August in einer Pressekonferenz mitteilte.sb

Thorsten Dirksen: Versuch einer Analyse

Thorsten Dirksen ist seit 34 Jahren Polizeibeamter. Er arbeitet bei der Polizei Emden/Leer als Personalratsvorsitzender und ist Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Leer/Emden.

Herr Dirksen, die Polizei, dein Freund und Helfer – gilt das noch?

Ja. Wir erwarten zwar Respekt, aber wir wollen nicht, dass Menschen Angst vor uns haben. Ich kann verstehen, dass uns jemand, den wir gerade festnehmen, vielleicht sogar mit Gewalt, nicht als Freund und Helfer wahrnimmt.

Immer häufiger werden Polizisten Opfer von gezielter Gewalt. Was ist da los?

Ich stelle inzwischen eine allgemeine Ablehnung gegenüber der Polizei fest, und die wächst ständig. Viele Menschen sind mit dem Staat nicht zufrieden, und wir als Polizei repräsentieren den Staat, ganz hautnah direkt vor Ort. Und dann sind wir der Sündenbock für die angeblichen Missstände in Berlin, in Hannover oder sonst wo.

Den Schriftzug ACAB („all cops are bastards“) sieht man fast überall an Wände geschmiert. Ärgert Sie das?

Nicht mehr so sehr. Aber ich würde mich gern mal mit jemandem unterhalten, der so etwas an die Wände schreibt und ihn fragen: „Was habe ich Dir eigentlich getan?“ Manche tätowieren sich das sogar auf die Finger und tragen es stolz umher. Und da frage ich mich: Warum? Wir als Polizei wollen der Gesellschaft nichts Schlechtes.

Warum haben viele Menschen keinen Respekt mehr vor der Polizei?

Ich glaube, dass wir heute viel mehr als früher ein sehr selbstbestimmtes Leben führen. Wenn ich mich betrinken will, dann betrinke ich mich halt. Mit allen Konsequenzen. Und wenn dann ein Rettungssanitäter kommt und mir helfen will – dann lehnen diese Menschen das vehement ab, weil sie es als Eingriff in ihre persönliche Freiheit empfinden. Der Sanitäter jedoch will nur helfen, vielleicht sogar ein Leben retten. Wer Polizei, Feuerwehr oder Rettungskräfte angreift, der greift auch die Gesellschaft an. Denn was bleibt denn noch, wenn es uns nicht gäbe? Nichts mehr.

Die Hilfe als Eingriff ins Selbstbestimmungsrecht?

Ja. Ich glaube, die Menschen entwickeln sich immer mehr zu Individualisten, und auch zu Egoisten. Jeder will irgendwie anders sein – und sich nicht hereinreden lassen. Auch nicht von Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst.

Was macht die Gewalt mit Ihren Kolleginnen und Kollegen?

Gewalt ist belastend, das höre ich immer wieder. Und viele verstehen es auch nicht. Sie haben einen Eid auf die Verfassung und die Gesetze geschworen, und werden so angegangen. Ein Beispiel: Neulich haben sich Anwohner einer Straße bei uns beschwert, weil wegen einer Umleitung mehr Verkehr vor ihren Haustüren war. Also haben die Kollegen den Verkehr kontrolliert – und mussten sich dann als Wegelagerer beschimpfen lassen, die nur Kassen füllen wollen. Man kann es nie allen recht machen.

Was hilft?

Wir wissen, dass wir der Sündenbock für vieles sind, aber man muss auch mal gestreichelt werden. Ein Lächeln oder allein der Satz: „Schön, dass sie da sind!“, der löst schon vieles bei uns aus.

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