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12. Mai 2024, 10:30 Uhr

Botschaft an die Jugend auf Augenhöhe

Gewaltopfer Christoph Rickels aus Jever referiert auf Einladung des Präventionsfördervereins in Nord

Rickels ist selbst ein Gewaltopfer. 2007 wurde der damals 20-jährige selbstbewusste, sportliche, musikalische und fröhliche Mann vor der früheren Diskothek „Dinis“ in Aurich von einem anderen Mann durch einen harten Schlag ins Gesicht zu Boden gestreckt – mit dramatischen Folgen: Schädel-Hirn-Trauma, Hirnblutungen, vier Monate Koma, halbseitige spastische Lähmung, angeschlagener Sprachnerv. Dennoch gibt er nicht auf.

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2022 war Christoph Rickels unter Federführung von IServ als Referent für IServ und als Keynotespeaker für die weltgrößte Bildungsmesse „didacta“ im Köln-Messezentrum.

2022 war Christoph Rickels unter Federführung von IServ als Referent für IServ und als Keynotespeaker für die weltgrößte Bildungsmesse „didacta“ im Köln-Messezentrum. ©

Norden Aggressionen und Gewalttaten nehmen in der heutigen Gesellschaft immer mehr zu. Gerade unter Jugendlichen wird gestritten, geschubst, geschlagen, geboxt und zugetreten, ohne Rücksicht auf das, was sie damit unter Umständen anrichten.

Um die jungen Menschen schon früh zu sensibilisieren, wie wichtig es ist, sich für ein gewaltfreies und soziales Miteinander einzusetzen, hat der Verein zur Förderung der Präventionsarbeit in Norden Christoph Rickels von der gemeinnützigen Initiative „First Togetherness“ eingeladen, an Norder Schulen jeweils einen Vortrag zu halten und seine eigene Geschichte zu erzählen.

„Wir müssen das Miteinander cool machen“, lautet sein Motto. Das Projekt von Rickels, das vom Norder Präventionsverein finanziert wird, startet am 15. Mai in der Oberschule Norden. Dort wird der heute 37-Jährige vor Siebtklässler/-innen referieren.

Rickels ist selbst ein Gewaltopfer. 2007 wurde der damals 20-jährige selbstbewusste, sportliche, musikalische und fröhliche Mann vor der früheren Diskothek „Dinis“ in Aurich von einem anderen Mann durch einen harten Schlag ins Gesicht zu Boden gestreckt – mit dramatischen Folgen: Schädel-Hirn-Trauma, Hirnblutungen, vier Monate Koma, halbseitige spastische Lähmung, angeschlagener Sprachnerv und weitere Defizite.

Mission

Nur sehr mühsam kämpft er sich zurück ins Leben, lernt, seine Behinderungen zu akzeptieren. Psychisch nimmt ihn dieser Schicksalsschlag und die Tatsache, dass er bis heute um sein Schmerzensgeld oder und seine Entschädigung kämpfen muss, sehr mit. Dennoch blickt er nach vorn. Rickels will sich nicht verstecken. Er hat eine Mission, er will seine Mitmenschen anhand seiner eigenen Geschichte auf die Folgen von Gewalt aufmerksam machen, will die Öffentlichkeit aufklären, will die Welt ein bisschen besser machen.

Das erste Mal stand Rickels in der Realschule in Schortens (heute Integrierte Gesamtschule Friesland) vor einer Schulklasse. „Als die Anfrage kam, hatte ich erst Bedenken, aber ich war früher schon ein Draufgänger, und so habe ich meine Bedenken überwunden und dort meinen ersten Vortrag gehalten“, berichtet Rickels im KURIER-Gespräch. Die Resonanz sei so überwältigend positiv gewesen, dass er begonnen habe, auch in anderen Schulen Vorträge zu halten.

2010 gründete Rickels First Togetherness – das erste Miteinander. „Wir sind heute in einer Welt von lauter Egoisten, in der jeder besser, schlauer und einfach „mehr“ sein will, als es andere sind. Wir brauchen ein neues jugendliches Bewusstsein, dann können wir es schaffen, die Welt ein wenig besser zu machen“, erklärt der 37-Jährige. „Deshalb habe ich das Projekt First Togetherness als gemeinnützige Unternehmensgesellschaft ins Leben gerufen und es auch als deutsche Marke eintragen lassen“, macht er deutlich.

Seither hat Christoph Rickels mit seiner Botschaft nicht nur sehr viele Schulen besucht, sondern auch Gefängnisse und soziale Einrichtungen, die ihn einladen. Der 37-Jährige hat viele Anfragen aus ganz Deutschland und dem deutschsprachigen Ausland, aber fast gar keine aus seiner Heimat Ostfriesland. „Deshalb freue ich mich riesig, dass ich mich in Schulen in Norden vorstellen kann. In der Oberschule, wo die Vorträge starten, war ich schon einmal“, sagt er.

Vorträge auf Augenhöhe

Wer ihn schon einmal erlebt hat, weiß, welche Wirkung seine Vorträge auf die Zuhörenden haben: Um eine nachhaltige Bewusstseinsänderung zu erreichen, informiert Rickels nicht einfach nur. Nein, er trifft sich mit den Jugendlichen auf Augenhöhe, spricht sie gezielt in ihrer Sprache und emotional an, bindet sie mit ein und wird deshalb auch ernst genommen. Sein Schicksal ist traurig, rührt manche immer wieder auch zu Tränen, aber Rickels trifft bei den jungen Leuten mit Selbstironie und kleinen Späßen den richtigen Ton.

„Ich bringe die Botschaft rüber, dass eine Sekunde unbedachter Gewalt oder Handlung einfach zu viel kaputt machen kann. Das bekommen die Jugendlichen von vielen zu hören – aber, wenn ich in den Raum reinhumpele, mit meiner Lähmung und aufgrund meiner Behinderung langsam spreche, dann macht dies den Jugendlichen deutlich, dass es stimmt“. erläutert Rickels.

„Die auf Augenhöhe erreichten und im Herzen berührten Schüler, entwickeln ein Eigeninteresse für Veränderungen. Das ist mir wichtig. Ich komme nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Ich bin kein Lehrer. Ich sage, was ich will. Das hebt meine Botschaft auf eine andere Ebene. Ich bewege mich in der Welt der Jugendlichen, deshalb hören sie mir zu und glauben mir“, sagt er.

Dankschreiben

Die Reaktionen seien oft Fassungslosigkeit und Tränen. Nach den Vorträgen bekommt Rickels häufig Briefe von Lehrern, die berichten, wie angetan die Schülerinnen und Schüler davon gewesen seien. „Aber ich kriege auch Rückmeldungen von den Jugendlichen selbst, in denen sie sich für meinen Besuch bedanken und mir schreiben, dass ich sie sehr berührt habe“, so Rickels.

Der 37-Jährige scheut auch den Gang ins Gefängnis nicht, spricht vor Gewalttätern. „Auch da merkt man, dass wir alle nur Menschen sind.“ Hier gehe es ebenfalls um Emotionen. „Die Betreuer sagen mir häufig, dass die Straftäter zunächst keinen Bock auf meinen Besuch gehabt hätten, danach aber sehr dankbar gewesen seien. Sie haben etwas ganz anderes erwartet und sind dann überrascht und berührt von dem, was ich erzähle“, sagt er. Ähnliche Erfahrungen hat er in einer Moschee in Langenhagen gemacht, in der er vor jungen gläubigen Muslimen gesprochen hat.

Projekt ist Lebenselixier

Seine Mission, das Projekt und die Vorträge sind Rickels Lebenselixier. „Es ist eine Win-Win-Situation: Einerseits habe ich eine Möglichkeit für gesellschaftliche Veränderungen geschaffen, die es so noch nicht gegeben hat, und andererseits schenkt all das mir seit über 16 Jahren die nötige Kraft, um mein neues Leben annehmen und manchmal auch aushalten zu können“, erklärt er.

Vorträge in der Heimat

Für sein zukünftiges Engagement wünscht sich der 37-Jährige, „dass ich zu Hause ankomme, das heißt, dass man mich endlich auch mehr in Ostfriesland und Friesland wahrnimmt und mir die Möglichkeit gibt, an dortigen Schulen und Einrichtungen meine Geschichte zu erzählen und deutlich zu machen, dass die Schläger und Mobber nicht die Starken und Coolen sind, sondern die, die mitfühlend sind, für andere einstehen und sich für ein Miteinander statt für ein Gegeneinander einsetzen“.

So sehr ich mich auch über die vielen Anfragen aus dem ganzen Bundesgebiet freue, so deutlich muss ich mir auch eingestehen, dass ich das körperlich nicht leisten kann. Ich möchte präventiv sein und trotzdem in meinem eigenen Bett schlafen können. Das ist mein Hauptansinnen“, erklärt er.

„Ich bin mehrfach ausgezeichnet worden, habe das Bundesverdienstkreuz bekommen, habe in vielen Städten in Deutschland und im Ausland referiert, aber in meiner Heimat immer noch kaum“, bedauert er. Das soll sich jetzt mit dem gemeinsamen Schul-Projekt des Präventionsfördervereins und Rickels in Norden ändern. „Das ist ein Funke Hoffnung für mich“, sagt er.

Wunsch nach Frieden

Für seine persönliche Zukunft wünscht sich Rickels endlich Frieden, das heißt, ein Ende der Kämpfe um sein Recht. „Das wünsche ich mir sehnlichst. Damit ich – bei all den Einschränkungen, die ich habe – ein normales Leben führen kann und sich die Bilderbuchgedanken erfüllen, die wohl jeder hat: Ehefrau, Kinder, Haus mit Garten und ein gutes Leben“, betont er.

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