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9. November 2024, 06:00 Uhr

Nordens Hebammen kämpfen um ihre Zukunft

Geburtshelferinnen haben in Norden mehr zu arbeiten, als sie personell stemmen können. Lösungen sind schwer zu finden. Aber eine Leidenschaft lässt sich nicht ausschalten.

Lesedauer: ca. 4min 11sec
Mit Babywiegen ist die Arbeit einer Hebamme nicht getan.

Mit Babywiegen ist die Arbeit einer Hebamme nicht getan. © Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Norden Das Grundrecht der Frau besagt, dass diese den Ort und die Bedingungen einer anstehenden Geburt selbst bestimmen dürfen. In Norden ist das so, wie es gedacht ist, aber gar nicht möglich. In der Stadt gibt es keine Geburtsklinik, die nächste ist in Aurich, eine weitere in Leer. Die Wahlmöglichkeit wäre theoretisch gegeben. Im praktischen Notfall düst aber jeder Krankenwagen direkt nach Aurich, nicht nach Leer. Doch es ist nicht allein die Krankenhaussituation, die Schwangere grübeln lässt. Auch bei der Wahl einer Hebamme haben Frauen kein großes Angebot.

139 Geburten wurden in diesem Jahr bis dato in Norden gemeldet. Für Vor- und Nachsorge sowie die direkte Geburtsbegleitung sind im Stadtgebiet aktuell allerdings nur vier Frauen zuständig. Und diese arbeiten mitnichten in Vollzeit. In einigen Fällen kam es bereits vor, dass Schwangeren keine Hebamme vermittelt werden konnte. Dies berichtet Stephanie Decker von der Hebammenzentrale des Landkreises Aurich. Ihre Kollegin, die Familienhebamme Tanja Freese vom Norder Amt für Gesundheitswesen, ergänzt, dass es gerade in Ferienzeiten eng wird. Sie erinnert sich, dass sie schon beide Augen zudrücken musste, um doch eine Frau zu betreuen, obwohl sie Urlaub hatte oder terminlich komplett ausgelastet war. Mehr Hebammen würden die Situation auf jeden Fall entlasten.

Rückläufige Kräfte

Als diese Hebammenzentrale 2018 an den Start ging, waren noch acht Geburtshelferinnen in Norden aktiv. Umzüge und Ruhestände dezimierten das Angebot. In Aurich sähe die Situation besser aus, doch so ganz einfach können die Frauen aus Aurich nicht in Norden arbeiten. Hebammen dürfen in einem Umkreis von 25 Kilometern aktiv werden. Einer mehr, und die Krankenkasse kürzt direkt Leistungen. „Die bürokratischen Hürden sind hoch“, wissen Deckert und ihre Kollegin.

„Uns sind vielfach die Hände gebunden“, erklärt Elke Kirsten, Nordens Gleichstellungsbeauftragte. Sie kennt die Problematik der Hebammen, mit denen sie sich regelmäßig austauscht. Viel machen könne sie aber auch nicht, da das Gesundheitssystem vom Bund organisiert wird. Nur an Stellschrauben könne die Stadt drehen. Das sind dann Dinge wie eine Verlinkung der Norder Internetseite und der Hebammenzentrale. So etwas funktioniere natürlich reibungslos. Anderes ist schwieriger. Zum Beispiel der Versuch, Fahrtmöglichkeiten nach Aurich zu organisieren. Wenn Frauen, die kein Auto besitzen, zur Entbindung ins Krankenhaus müssen, ist die Fahrt mit dem Krankenwagen problemlos möglich. Vertrauenspersonen aber müssen zuweilen schauen, wie sie dann schnellstmöglich ins Klinikum kommen. Der Nahverkehr ist oft nicht zuverlässig, Taxen zu teuer. Kirstens Idee war, Taxiunternehmen für solche Fahrten zu engagieren und aus städtischen Töpfen zu bezahlen. Kein Unternehmen ging auf den Deal ein.

Fehlende Räumlichkeiten

Auch das Angebot von Geburtsvorbereitungskursen läuft nicht wie erhofft. Weil die Infrastruktur in Norden nicht mitspielt. Während sich in Aurich das Angebot in den vergangenen Jahren kontinuierlich steigerte – aktuell auf 22 Seiten im Volkshochschul-Katalog –, kann die Norder Stelle mit ihren beteppichten Räumen keine veranstalten.

Deckert und Freese sehen die Bemühungen der Stadt. Ihre Probleme werden damit aber nicht gelöst. Es sind so viele. Die Bezahlung zum Beispiel. Wenn Tanja Freese pro Mutter eine halbe Stunde Zeit einplanen würde, wäre die Bezahlung ihrer Meinung nach gerechtfertigt. Doch eine halbe Stunde sei unrealistisch. Ein Besuch dauert länger als 30 Minuten, sei ihrerseits auch nicht anders gewollt. Dazu kämen ohnehin noch Vor- und Nachbereitung. Der Stundensatz verrinnt.

Zusätzlich ärgert sie sich, dass es seit Jahren keine Erhöhung gegeben hat, keinen Coronabonus wie in anderen Berufen. Auch die Anerkennung fehle vielfach. Nicht bei den jungen Müttern, das wissen die Hebammen. Aber würde man auf der Straße fragen, wofür Hebammen da seien, wäre dies vielfach unklar. Für Geburten? Diesen Job könnten doch die Ärzte übernehmen?! Vor- und Nachsorge würde schnell vergessen werden.

Dabei ist das Berufsfeld vielfältiger und neben der persönlichen Betreuung von Schwangeren auch gesellschaftsrelevant. Sie entlasten beispielsweise das Gesundheitssystem. Kinderarztpraxen, die ohnehin bereits überlaufen sind, wären noch voller, wenn junge Mütter mit ihren Fragen nicht zu ihren Hebammen gehen könnten. Frühzeitig können die Geburtshelferinnen zudem bei Kindeswohlgefährdung eingreifen und Ratschläge erteilen. So etwas macht Tanja Freese als Familienhebamme. Ergänzend zu regelversorgenden Hebammen übernimmt sie weitere Aufgaben. Sie geht zuweilen in Brennpunkte, wo es nicht nur um die reine Versorgung, sondern auch die Sicherheit und Gesundheit von Säugling und Mutter geht. Dies ist eine freiwillige Leistung des Landkreises. Wird es dieses Angebot immer geben?

Nachwuchssorgen

Die Ängste um ihre Zukunft sind gegeben. Vor allem der fehlende Nachwuchs bereitet Stephanie Deckert und Tanja Freese Sorgen. Deckert erinnert sich, dass es früher schwierig war, einen Ausbildungsplatz als Hebamme zu bekommen. Heute muss man für den Beruf studieren. In Oldenburg stehen jährlich 35 Erstsemsterplätze zur Verfügung. Sie werden manchmal nur schwerlich besetzt. Und: Viele, die den Beruf studieren, wollen im Anschluss nicht direkt als Hebamme arbeiten, sondern an der Universität bleiben.

Trotz aller Schwierigkeiten möchten weder Deckert noch Freese ihre Arbeit missen. Es sei einfach „ein sehr schöner Beruf“, sagt Deckert. Vielfältig, eigenverantwortlich, herausfordernd, erfüllend. Man gerate in sensible Bereiche des Menschen, bekomme viel Vertrauen entgegengebracht. Freese ergänzt: „Das ist eine Leidenschaft. Die schaltet man nicht so einfach aus.“

Optimistisch bleiben

Daher stecken die Hebammen auch nicht den Kopf in den Sand. Gemeinsam mit Elke Kirsten tauschen sie sich aus, wo man im Kleinen und Großen doch etwas verändern kann. Welche Anreize kann man schaffen, Hebammen langfristig in Norden anzusiedeln? Wie kann man Auricher Hebammen nach Norden locken? Nur, weil es auf Bundesebene so viele Fehlstellen gäbe und das System der Geburtsstationen „desolat“ sei, wie Kirsten sagt, sei es kein Grund, aufzugeben. Die Hebammen wissen, was sie gemeinsam stemmen können. Sie sind gut vernetzt, tauschen sich aus. „Die Zentralen funktionieren“, sagt Deckert und rät daher jeder werdenden Mutter, sich bei der Suche nach einer Hebamme an sie zu wenden. Nur einen Wunsch hat Freese an künftigen Eltern: „Bitte planen Sie Ihre Geburt nicht zu den Schulferien!“ Ansonsten freut sie sich auch über jede Kontaktaufnahme. Diese funktioniert für die Hebammenzentrale im Landkreis Aurich über die Rufnummer 0176/34522255 und die Internetadresse www.hebammenzentrale-aurich.de. Die Familienhebammenzentrale ist unter Telefon 0160/1550275 erreichbar.

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