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19. September 2024, 07:00 Uhr

Prozess am Landgericht: „Als wäre ein Schalter umgelegt worden“

Vom freundlichen Nachbarn zum Bedrohungspotenzial: Selbsternannter „Prince of Wales“ steht vor Gericht

Lesedauer: ca. 2min 38sec
Prozess am Landgericht: „Als wäre ein Schalter umgelegt worden“

Aurich/WittmundEs kam über uns wie eine Lawine.“ Mit diesen Worten beschrieb ein 66-jähriger Wittmunder den Beginn des unerträglichen Zusammenlebens mit seinem Nachbar, der auf der Anklagebank des Landgerichts Aurich sitzt. Dem 45-jährigen Angeklagten werden Beleidigungen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen und Diebstähle zur Last gelegt. Allerdings ist fraglich, ob der Angeklagte wegen einer psychischen Erkrankung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Das Landgericht prüft auch, ob die Voraussetzungen für die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik vorliegen.

Die Nachbarn hatten ein ganzes Jahr lang unter dem Treiben des 45-Jährigen zu leiden. Die Familie des 66-Jährigen rief immer wieder die Polizei, stellte mehr als ein Dutzend Strafanträge. Zunächst war es nur überlaute Musik, die den ganzen Tag aus der Wohnung des Angeklagten schallte. Dann wurde der Angeklagte immer aggressiver, beleidigte das unter ihm wohnende Ehepaar auf übelste Weise. „Das haben wir irgendwann gar nicht mehr angezeigt, weil das zur Normalität wurde“, sagte die Nachbarin aus.

Was ihr und ihrer Familie Angst machte, waren die ständigen Bedrohungen. Er werde sie umbringen, mit dem Hammer erschlagen, ihre Wohnung anzünden, kündigte der Angeklagte immer wieder an. In der kalten Jahreszeit ließ er die Haustür geöffnet, um „zu lüften“ und drehte den Nachbarn den Strom ab.

„Als wir einzogen, war erst alles ganz normal“, beschrieb die 56-jährige Nachbarin die Situation. Man habe sich guten Tag und guten Weg gewünscht. „Das ging dann von heute auf morgen los, als ob etwas umgelegt wäre in seinem Kopf“, fügte ihre Tochter hinzu, die öfter zu Besuch bei ihren Eltern war.

Mit der Veränderung ging einher, dass der Angeklagte eine neue Persönlichkeit annahm. Er wurde mal zu einem englischen Adeligen, mal zum Teufel, hielt sich für den Besitzer des Hauses, drohte den Nachbarn, den Mietvertrag zu kündigen und sie aus dem Haus zu werfen. Er setzte sogar ein Kündigungsschreiben auf, das er als „Prince of Wales“ unterzeichnete und mit einem Siegel versah. Darin beschuldigte er seine Nachbarn, keine Miete zu zahlen, ihn versklaven zu wollen und Angehörige einer Sekte zu sein. Er warf den Nachbarn vor, Kannibalismus zu betreiben, ihn sexuell zu belästigen, zur Prostitution zwingen und vergiften zu wollen. Der 45-Jährige vermutete sogar, dass die Nachbarn seine Mutter ermordet hätten. „Das klingt alles witzig. Aber es war nicht witzig. Ganz und gar nicht“, betonte die Nachbarin.

Der 45-jährige Wittmunder war schon mehrfach in die Psychiatrie eingewiesen worden. „Meist war er nach drei Tagen wieder raus“, berichtete sein Betreuer. Auch nach einem sechswöchigen Klinikaufenthalt konnte der Betreuer keine Änderung bei seinem Klienten feststellen. „Es gab eine gute Zeit. Da war er depotmäßig gut eingestellt“, sagte der Berufsbetreuer, der den Angeklagten schon seit zwölf Jahren kennt. Dann habe es einen Vorfall beim Arzt gegeben. „Da ist er wohl dominant aufgetreten“, konnte der Esenser keine Einzelheiten nennen. Seitdem gab es aber keine Depot-Medikation mehr.

Bereits 2007 hatte ein Gericht eine Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet, die Maßnahme aber zur Bewährung ausgesetzt. Seitdem scheint sich die Erkrankung verfestigt zu haben. Ein neues psychiatrisches Gutachten soll in dieser Hinsicht weitere Aufklärung bringen.

Der Prozess wird fortgesetzt.

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