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29. Januar 2024, 07:00 Uhr

Und keiner hat damals ein Wort gesagt...

Holocaust-Gedenktag in Aurich: Wie einst brave Menschen zu Handlangern des Todes wurden

Lesedauer: ca. 2min 57sec
Wir sollten uns „den bedrückenden Wahrheiten unsere Geschichte stellen“, meint der Historiker Dr. Heiko Suhr.

Wir sollten uns „den bedrückenden Wahrheiten unsere Geschichte stellen“, meint der Historiker Dr. Heiko Suhr. ©

Aurich Die diesjährige Holocaust-Gedenktag im Auricher Güterschuppen spannte einen weiten Bogen „Vom Brand der Synagogen bis zum Krematorium in Au-schwitz“, so der Titel. Gezeigt wurde dazu am Samstag ein Film von Schülerinnen und Schüler, die Carl Osterwald als Zeitzeugen interviewt hatten. Den Hauptvortrag hielt der Historiker und Leiter der Bibliothek der Ostfriesischen Landschaft Dr. Heiko Suhr. Für das musikalische Rahmenprogramm sorgte Natalia Kuhn von der Auricher Musikschule.

Auch in Aurich branntedie Synagoge

Wie fast überall in Deutschland, zündeten die Nationalsozialisten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch in Aurich die Synagoge an und brannten sie nieder. Gleichzeitig verhafteten sie alle Juden ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Alter und brachten sie in eine Viehhalle, um sie dort dann stundenlang schwer zu demütigen und zu misshandeln. Lediglich die Frauen, Alten und Kinder durften am nächsten Tag wieder gehen. Die Männer hingegen mussten bei bitterster Kälte am Ellernfeld Drainagerohre verlegen. Anschließend verfrachtete man sie ins Gefängnis und deportierte sie über Oldenburg in das Konzentrationslager Sachsenhausen, wo sie erst Wochen später frei kamen.

Carl Osterwald, der 1927 geboren wurde, besuchte damals das gegenüber der Synagoge gelegene Gymnasium. Am Morgen des 10. November hat er noch die Überreste der ausgebrannten Ruine gesehen. „Wir hatten die erste Stunde frei“, erinnert er sich in dem Interview. „Ich wusste, dass dies nicht gut war. Aber es wurde darüber nicht gesprochen.“ In der Schule seien Fragen und Diskutieren ohnehin nicht erlaubt gewesen. „Das Erste, was wir lernen mussten, war Gehorsam“, so Osterwald.

Vom Maler zum Mordgehilfen

Daran anknüpfend zeichnete Dr. Heiko Suhr die Geschehnisse in der Pogromnacht anhand der Biografie des seinerzeit in Aurich wachhabenden Polizisten Hermann Theesfeld nach. Der war eigentlich gelernter Maler. Seit 1928 besaß er ein Parteibuch der NSDAP. Zudem war er SA-Mitglied. Ab April 1938 bekleidete er den Posten eines Polizei-Oberwachtmeister im preußischen Staatsdienst. In der Nacht zum 10. November 1938 verließ Theesfeld seine Wache und ging nach Hause, um seine Polizeiuniform abzulegen und in SA-Montur zurückzukehren. „Seine Aufgabe war es, an der Ecke Lilienstraße/Kirchstraße – also schon fast an der Synagoge – Posten zu beziehen“, wie Suhr am Sonnabend berichtete. „Den Ausbruch des Brandes beobachte Theesfeld von dort aus, wollte dann zur Polizeiwache laufen, entschied sich aber auf dem Weg spontan, sich an der Verschleppung der Auricher Juden zu beteiligen, unter anderem durch aktive Gewaltandrohung mit einem Gummiknüppel. Hermann Theesfeld hat also den aus SA-Sicht reibungslosen Ablauf des Auricher Synagogenbrandes aktiv befördert und sich an den Repressalien an Auricher Juden aktiv beteiligt. Seine Rolle mag nicht zentral gewesen sein, aber er hatte die Wahl. Er hätte auf der warmen Polizeistube bleiben können.“

Vom Mordgehilfenzurück in den Alltag

Nach dem Krieg wurde Theesfeld für seine Beteiligung am Synagogenbrand zwar verurteilt. Jedoch bekam er gerade einmal ein Jahr aufgebrummt, wovon er am Ende zweieinhalb Monate tatsächlich absitzen musste. Danach konnte er wieder seiner geregelten Arbeit nachgehen. Der Rest war wie gehabt Schweigen. Mag sein, dass viele wirklich nichts von Auschwitz gewusst haben. „Aber jeder hat gewusst, was mit den Juden passiert ist“, betont Carl Osterwald in seinem Interview. „Jeder in Aurich hat gesehen, wenn die KZ-Gefangenen von Engerhafe durch Aurich zogen. Wir hatten ja auch da einen Bürgermeister und einen Landrat und Behörden. Und keiner hat ein Wort gesagt.“ Dabei ist das Erinnern wichtig. „Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben“, zitierte Dr. Heiko Suhr in seinem Vortrag den spanischen Philosophen George Santayana und fügte ergänzend hinzu, dass wir uns auch und gerade angesichts aktueller Ereignisse nicht davor scheuen sollten, „uns den bedrückenden Wahrheiten unserer Geschichte“ zu stellen, so der Historiker. wj

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