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2. November 2023, 09:00 Uhr

Ungewöhnliches Konzert in Norden zum Geburtstag von Recha Freier

Wiederveröffentlichung des Gedichtbands „auf der Treppe“

Lesedauer: ca. 3min 12sec
Eva-Maria Houben am Klavier und Christine Becker-Schmidt faszinierten die Zuhörer im KVHS-Forum mit „5 haikus für sprechstimme und klavier“.

Eva-Maria Houben am Klavier und Christine Becker-Schmidt faszinierten die Zuhörer im KVHS-Forum mit „5 haikus für sprechstimme und klavier“. © ert

Norden Mit einem ungewöhnlichen Konzert, das es so vermutlich nie wieder geben wird, wurde am Sonntag im gut besuchten Forum der Kreisvolkshochschule der Geburtstag von Recha Freier gefeiert, die vor 131 Jahren in Norden das Licht der Welt erblickt hatte. Gleichzeitig stellte der Norder Autor Georg Frey die Wiederveröffentlichung des Gedichtbands „auf der Treppe“ von Recha Freier vor. Er freute sich, dass er die renommierte Komponistin und Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Eva-Maria Houben dafür gewinnen konnte, ihr Werk „5 haikus für sprechstimme und klavier“ aufzuführen. Die von Recha Freier geschriebenen Haikus – eine besonders kurze japanische Gedichtform – trug Christine Becker-Schmidt vor, die ein Theaterstück mit dem Titel „Der Funke Hoffnung...“ über das Leben der berühmten Norderin geschrieben und inszeniert hatte.

Vor einem Jahr, gab Frey zu, wusste er noch nicht, dass Recha Freier auch eine Dichterin war. Umso beeindruckter war er von den Gedichtzeilen, die Renate Wienekamp in der von Roswitha Homann und Lennart Bohne initiierten Gedenkveranstaltung anlässlich ihres 130. Geburtstages in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld vortrug. Frey lieh sich daraufhin die in den 1970er-Jahren erschienen Gedichtbände „auf der Treppe“ und „Die Fensterläden“ von Recha Freier, die seit Langem vergriffen sind, und beschloss, sie neu zu verlegen.

„Mit dem Einverständnis von Recha Freiers Sohn Serem und der von Walter Demandt vermittelten Unterstützung des Vereins Menora und der Stiftung Alphusius ist der erste von zwei Bänden nun in der edition sanderling erschienen: auf der Treppe“, teilte er stolz mit. Das wurde am Sonntag mit alkoholfreiem Sekt, Orangensaft und Schnittchen gefeiert. Etliche Geburtstagsgäste erwarben einige der von Josef Wegener getreu der Hamburger Originalausgabe gesetzten und in der Buchwerkstatt Hage von Holger und Maike Rector sorgsam gedruckten und gebundenen Gedichtbände.

Roswitha Homann, die nach der Begrüßung durch Markus Saathoff-Reents (KVHS) und die Norder Gleichstellungsbeauftragte Elke Kirsten sprach, hatte den FrauenORT Recha Freier 2014 zusammen mit Kirsten ins Leben gerufen, weil die meisten Norder die große Tochter ihrer Stadt nicht kannten. „Sie war so eine realistische und zupackende Frau, über deren Traum, 10000 Kinder zu retten, man zuerst gespottet hat“, blickte Homann zurück. Im Jahr 1932 gründete Recha Freier die Jugendalija, der weit mehr als 10000 Menschen ihr Leben verdanken, weil sie ihnen die Ausreise nach Palästina ermöglichte. Auch sie floh schließlich mit ihrer Tochter Maayan nach Palästina.

Neben ihrer sozialpolitischen Arbeit, für die sie am Ende ihres Lebens den Israel-Preis für ihr Lebenswerk erhielt, widmete sie sich der Musik – sie spielte hervorragend Klavier – , lernte Sprachen, schrieb Libretti und jüdische Musik-Geschichte, das sechsteilige Testimonium.

Diese unbekannten Seiten von Recha Freier erlebte das Norder Publikum durch Eva-Maria Houben und Christine Becker-Schmidt. Sie trugen „5 haikus für sprechstimme und Klavier“ vor, die Houben 2002 komponiert hatte. Georg Frey hatte das Werk im Internet entdeckt. „Auf gut 20 Seiten fand ich die 5 Haikus von Recha Freier, sie stammten aus ,auf der Treppe‘“, erzählte er. „Ich fand Notenlinien, viele Noten waren darauf nicht verteilt, ich fand Hinweise, wie die Noten zu spielen seien, die Gedichte zu sprechen. Es gab detaillierte Zeitangaben, die sich auf den Raum zwischen den Klängen und den zu sprechenden Haikus bezogen. Ich bin ein musikalischer Laie. Ich begriff nicht alles, vielleicht auch nur wenig, aber ich spürte, dass hier etwas höchst Ungewöhnliches geschaffen worden war.“

Die Komponistin, deren Werke in der ganzen Welt aufgeführt werden, hüllte das Norder Publikum nicht in einen Klangteppich ein, sondern schlug die Töne einzeln an, mit unterschiedlich langen Pausen dazwischen. Die Zuhörer erfuhren so, dass manche Klänge nur von kurzer Lebensdauer sind, während andere allmählich verebben, Töne mit- und nachschwingen. „Ein Klang hat immer ein Nachbeben“, erklärte Houben in dem anschließenden Gespräch mit den Zuhörern. Sie komponiere mit Pausen, um die Stille hörbar zu machen – und die Stille hinter der Stille. „Ich komponiere nicht mit einem Ziel, sondern mit dem Rücken zur Zukunft.“

In den großen Pausen sprach Christine Schmidt-Becker die Haikus von Recha Freier aus dem Gedichtband „auf der Treppe“. Das letzte, das besonders gut zu dem ungewöhnlichen Hörerlebnis passt, lautet: „Seine Stimme unerreichbar/nah/am innersten Ohr“. Auch diese Worte klangen lange nach.

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