Wer hilft den Helfern?
In Ostfriesland steigt die Zahl der Gewalttaten gegen Einsatzkräfte stark an. Warum ist das so? Und welche Fälle gibt es?
Lesedauer: ca. 3min 37secOstfriesland Auf die Frage, wann er zum letzten Mal gelächelt habe in einer Einsatzsituation, muss Thorsten Dirksen lange nachdenken. So richtig fällt ihm nichts ein. Hin und wieder würde man gefragt: „Wollen Sie ein Eis?“, hin und wieder werde gesagt „Schön, dass Sie da sind“. Aber wann das genau war? Das weiß er nicht mehr.
Norden
„Ein Mann zerschlug eine Fensterscheibe und ging massiv auf die vor Ort eingetroffenen Polizeibeamten los, indem er sie bedrohte und beleidigte. Er warf Gegenstände, darunter einen Flachbildfernseher, aus dem Fenster des ersten Obergeschosses auf die Beamten. Um die Situation zu bewältigen, setzten die Polizeibeamten Pfefferspray und einen Diensthund ein. Der Mann wurde daraufhin in Gewahrsam genommen.“
(Einsatzbericht der Polizei)
Niedersachsen
4467 Mal haben Einsatzkräfte von Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst im Jahr 2023 Gewalt erfahren. Im Vorjahr war es ein Fall weniger. Betroffen seien vor allem Polizeikräfte, sagte Innenministerin Daniela Behrens bei der Vorstellung der Statistik im August. Die Zahl der Gewaltdelikte gegenüber Rettungskräften sei um sechs Prozent gestiegen. Zum ersten Mal wurde eine solche Zahl überhaupt veröffentlicht. Wohl auch, um dem Phänomen eine Dimension zu geben. Und um den Menschen zu zeigen: Die, die helfen wollen, stehen oft selbst im Feuer.
„Inakzeptabel“ nennt Behrens diese Tatsache, und ihr fielen vermutlich noch andere Vokabeln ein, die dann nicht zitierfähig wären. Und nur, um die in Deutschland beim Thema „Gewalt“ zwangsläufige Diskussion über die angeblich überproportional gewalttätigen Ausländer gleich auszubremsen, sagt Behrens noch schnell: Die Tatverdächtigen sind in der Mehrzahl deutsch, erwachsen und männlich.
Und betrunken. Das sagt sie nicht. Aber dazu später.
Ostfriesland
Während die Zahl der Gewaltdelikte gegen Einsatzkräfte im ganzen Land stagniert, sind sie in Ostfriesland angestiegen. Mitunter sogar stark. Warum das so ist und Ostfriesland gegen den Trend läuft, kann niemand so recht erklären. Es kommt auch drauf an, was und wie gezählt wird. Dirksen sagt, Gewalt sei für ihn schon, wenn er beleidigt oder beschimpft werde. Nun dürften die Kriterien, was als Gewalt gilt, landesweit die gleichen sein. Und so bleibt es ein Rätsel.
Osnabrück
In Osnabrück sitzt die Polizeidirektion. Sie ist Herrin über alle Polizeidienststellen vom Teutoburger Wald bis zum letzten Zipfel Norderneys. Ihr Präsident Michael Maßmann hat in den Akten wühlen lassen. Was er sagt, klingt ein wenig unglaublich – untermauert aber die ostfriesischen Verhältnisse: „Mehr als jeder zweite Polizist in der Direktion war von Übergriffen betroffen. Bei jedem zweiten Angriff war Alkohol im Spiel, zwei Drittel der Tatverdächtigen waren Deutsche.“ 785 Fälle habe es gegeben, 1736 Opfer.
Jemgum
„Eine 16-jährige Jugendliche, die sich aufgrund einer medizinischen Notlage in der Kinderpsychiatrie befand, leistete erheblichen Widerstand gegen die eingesetzten Polizeikräfte. Während des Einsatzes trat sie nach den Beamten und versuchte, einen Polizisten zu beißen. Infolge dieser Gewaltanwendung verletzte sich ein Beamter so schwer, dass er bewusstlos wurde und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.“
(Einsatzbericht der Polizei)
Emden
Wenn es um Rettungskräfte geht, wird die Lage kompliziert. Es gibt viele private Organisationen und Rettungsdienste in öffentlicher Hand. Während die Polizei ein Unternehmen ist mit einer klar geregelten statistischen Erfassung, läuft es in Kommunen anders. In Emden führt man eine Statistik. Dass Übergriffe gegen Rettungskräfte häufiger werden, kann man dort aufgrund der Akten nicht nachvollziehen. Aber: 10 bis 15 Angriffe auf die Retter in Rot sind es pro Jahr etwa; seit 2019 konstant. Stadtsprecher Eduard Dinkela: „Die Kolleg*innen des Rettungsdienstes Emden haben die Möglichkeit wöchentlich an einem Deeskalationstraining teilzunehmen.“ Die Stadt Emden nimmt jedoch eine „zunehmende Konfliktbereitschaft“ in der Gesellschaft wahr. Der Ton werde rauer, der Respekt lasse nach. Entsprechend sichert sie sogar ihre Verwaltungsgebäude ab, speziell das Sozialamt.
Landkreis Aurich
Auch der Landkreis Aurich hat keine exakten Zahlen, meldet aber, dass es „echte“ Gewalt gegen Rettungskräfte bisher nicht gegeben habe, zumindest liege im Kreishaus nichts vor. Es habe aber einen Menschen gegeben, der im Rettungswagen randaliert und einiges kaputt gemacht habe. Die Ursache sieht Kreissprecher Rainer Müller-Gummels bei solchen und ähnlichen Vorfällen im Alkohol.
Norden
Zwei Polizeibeamte, die wegen einer Ruhestörung zu einem Mehrfamilienhaus gerufen wurden, wurden beim Verlassen des Gebäudes von einem bis dahin unbeteiligten Anwohner mit einem Blumenkübel beworfen. Glücklicherweise wurden die Beamten bei diesem Vorfall nicht getroffen.
(Einsatzbericht der Polizei)
Osnabrück, die zweite:
Noch einmal Michael Maßmann, der Präsident der Polizeidirektion Osnabrück: Offensichtlich werden Konflikte generell immer öfter mit Gewalt ausgetragen, anstatt sie friedlich zu lösen – egal, ob im analogen oder digitalen Raum.“
Der Staat
„Viele Menschen wollen oder können nicht mehr zwischen Feuerwehr und Polizei unterscheiden. Für die reicht es, dass jemand eine Uniform trägt.“ Auch der Rettungsdienst werde heute „aufgrund seiner Präsentation in der Öffentlichkeit als Teil des Staates eingestuft“, heißt es in einer Studie des Deutschen Roten Kreuzes (Quelle: Zeitschrift Notaufnahme, 31/2021).
Ist es wirklich so? Die Ampel liefert angeblich schlechte Arbeit, die FDP hofiert angeblich Apotheker, CDU-Vertreter machen sich angeblich mit Masken reich – und weil Otto-Normalverbraucher sich nicht wehren kann, vergreift er sich an den, die er für Repräsentanten des Staates hält?
Thorsten Dirksen glaubt: Ja.