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10. Oktober 2024, 17:11 Uhr

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Ein Tauschtag, der Folgen haben soll

Beim Schichtwechsel der Behindertenwerkstatt tauschen Menschen mit und ohne Handicap ihren Arbeitsplatz. Am Nachmittag treffen alle freudig zusammen. Ein Mitarbeiter hat aber einen großen Wunsch.

Lesedauer: ca. 3min 34sec
Stephan (M.) muss auf dem Hof von Dieter Hattermann (r.) richtig mit anpacken. Auch sein Betreuer von der Behindertenhilfe durfte nicht faul herumstehen.

Stephan (M.) muss auf dem Hof von Dieter Hattermann (r.) richtig mit anpacken. Auch sein Betreuer von der Behindertenhilfe durfte nicht faul herumstehen. © Foto: Ute Bruns

Norden Nils schwingt den digitalen Pinsel, übertüncht unschöne Stellen, regelt Helligkeit und Kontrast. Dann ist er zufrieden. Ebenso wie Hauke Wiesner, der ihm den ganzen Tag über zeigt, was man im Marketing der Glave Gruppe so macht.

Nils Tamminga ist Teilnehmer des diesjährigen Schichtwechsels, eines Aktionstags der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen. Einmal im Jahr tauschen dort Werkstattbeschäftigte mit Handicap den Arbeitsplatz mit Mitarbeitern aus Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes – der KURIER berichtete. Nils konnte sich für die Glave Gruppe qualifizieren. Nach einer Besichtigung des Unternehmens ging es ans Eingemachte. Er besuchte seinen Tauschpartner Arthur van der Pütten, der am Standort Birko-Tidofeld in der Holzabteilung arbeitet. Arthur war einer von mehreren Glave-Interessierten, die Lust auf den Wechsel hatten. Doch nicht jeder kann mitmachen, er war der Glückliche, der ausgewählt wurde.

Nils lernt von Glave-Mann Hauke zu layouten.

Nils lernt von Glave-Mann Hauke zu layouten. © Foto: Christian Schmidt

Nils wechselte ins Marketing. Er macht Fotos und Videos, bearbeitet sie am Computer, designet Layouts, die dann auf den bekannten Internetplattformen gepostet werden. Betreuer Hauke ist voll des Lobes, die beiden agieren eingespielt, hier und da gibt Hauke Tipps. Das Arbeitsverhältnis ist entspannt, fast so eingespielt wie bei alten Kollegen.

Langfristiges Ziel ist der erste Arbeitsmarkt

Vielleicht werden Nils und Hauke einmal dauerhafte Kollegen?! Langfristiges Ziel des Schichtwechsels ist es, die Menschen aus der Behindertenwerkstatt in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. In der Vergangenheit klappte das mehrfach, über längerfristige Praktika beispielsweise. Das funktioniere in der Regel gut, sagt Jann Buck vom Vermittlungsdienst. Die Arbeitgeber seien zufrieden, bekämen gute Arbeitskräfte. Organisatorische Dinge, der „Papierkram“, verbleibt bei der Behindertenhilfe. Wenn es zu Absagen käme, ginge es in der Regel um grundsätzliche Dinge wie fehlende Arbeitsplätze. Ein kleines Unternehmen kann sich einen weiteren Mitarbeiter nicht unbedingt noch leisten.

Mit Eifer ausmisten und Kühe melken

Während Nils Fotos bearbeitet, ist sein Werkstattkollege Stephan Bolinius in der Landwirtschaft im Einsatz und bereitet sich langsam auf den Feierabend vor. Auf dem Milchviehbetrieb von Dieter und Antje Hattermann kann man sich nur bedingt nach den Arbeitszeiten einer Werbeagentur richten. Die Kühe wollen bei Wind und Wetter gemolken werden. Stephan hat an diesem Tag begeistert mit angepackt, durfte viel machen, melken, misten, Traktor fahren. Dass an dem Tag ein Kälbchen geboren wurde, war Bonus. Landwirt Dieter ist begeistert. Dies sei ein Tag wie jeder andere gewesen, sagt er. Oftmals kämen Hilfsarbeiter, die von der Materie keine Ahnung hätten. Bei Stephan sei das nicht der Fall. Er war interessiert, packte an. Natürlich, möchte man ergänzen.

„Die Leistungsbereitschaft ist beeindruckend“, weiß Onno Sikken von der Behindertenwerkstatt. Die Damen und Herren, die sein Haus verlassen, sind bereit zu arbeiten, zu lernen. 400 Menschen mit Behinderung sind in den Norder Werkstätten beschäftigt, 40 werden ausgebildet, 360 arbeiten. Im Speicher 77, der Gärtnerei Birkenhof, in Lager, Logistik und Industrie. 350 Angestellte sorgen dafür, dass alles reibungslos abläuft. Auch beim Schichtwechsel. Jeder Behinderte wird von einem Betreuer begleitet. Meist müssen sie nicht viel mehr machen, als den Tag zu dokumentieren. Ihre Schützlinge fühlen sich oft sehr schnell wohl.

Der Chef muss die Zusammenarbeit wollen

Das ist bei langfristigen Praktika nicht immer der Fall. Einige Praktikanten vermissen ihre alten Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheit der Werkstätten. Auch wenn die neue Arbeit viel Freude bringt, kommen sie lieber wieder zurück. Hier ist es an den neuen Betrieben, dass sich die Behinderten wohlfühlen. Meist klappe das auch. Gerade durch den Schichtwechsel, diesen „Türöffner“-Tag, würden erste Kontakte geknüpft, Kameradschaften gebildet. Wenn ein behinderter Mensch sich wohlfühlt, ist die Hälfte geschafft. Jetzt müsse die andere Hälfte auch noch mitspielen. Und da gilt: „Der Chef muss das wollen!“ Das sagt Werkstattleiter Rudolf Franke. Er weiß: Wenn der Vorgesetzte bereit ist, Menschen mit Handicap zu beschäftigen, sind die Hürden zur Integration deutlich kleiner.

Am Ende des Tages trafen sich alle „Schichtwechsler“, erschöpft, aber voller guter Eindrücke.

Am Ende des Tages trafen sich alle „Schichtwechsler“, erschöpft, aber voller guter Eindrücke. © Foto: Ute Bruns

Am Nachmittag treffen alle Schichtwechsel-Teilnehmer noch einmal zusammen. Müde, aber froh. „War richtig gut“, sagt Teilzeilandwirt Stephan und erhält Zustimmung von allen Anwesenden. Auch den Tauschpartnern. „Super Gruppe. Super Meister“, fasst Glave-Mann Arthur seine Erfahrungen in der Werkstatt zusammen. Man sei freundlich empfangen worden, habe offene Gespräche geführt und diszipliniert gearbeitet. „Ich bin froh, das erlebt zu haben“, gibt er zu. Profi-Bäckerin Miriam Erdmann ergänzt lachend, dass es in den Werkstätten organisierter zugegangen sei, als im eigenen Betrieb. Auf ihre Tauschpartnerin Lea Muskulus trifft sie an dem Nachmittag aber nicht mehr. Sie war nach der Arbeit bei Grünhoff zu geschafft.

Zum Ende gibt es für die Tauschpartner ein Präsent, das aber gar nicht nötig war. Dass alle ihren Horizont erweitern konnten, war Geschenk genug. Sie wollen berichten, im nächsten Jahr wieder an Bord sein. Da bereits Anfragen vorliegen, überlegt die Behindertenwerkstatt, mehr Plätze anzubieten. Solange es organisatorisch machbar sei, spräche nichts dagegen.

Die Menschen mit Handicap freuen sich nach dem Tag über ihre Perspektiven. Nils wünscht sich ein Praktikum bei Glave. „Das kriegen wir bestimmt auch noch hin“, meint Hauke.

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