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30. September 2024, 16:19 Uhr

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Seltene Krankheit: Leben mit Feen im Bauch

Ein vierjähriges Mädchen leidet an einer unheilbaren Stoffwechselkrankheit. Es darf nur bestimmte Gerichte essen. Ihre Eltern treffen sich in Norden mit anderen Betroffenen, um gemeinsam zu kochen. Was kommt dabei auf den Tisch?

Lesedauer: ca. 3min 33sec
Das Ehepaar Ilsen (in Blau) begrüßte die PKU-Betroffenen in Norden.

Das Ehepaar Ilsen (in Blau) begrüßte die PKU-Betroffenen in Norden. © Foto: privat

Norden Luisa hat Feen im Bauch. So erklärt sie, wenn sie gefragt wird, warum sie nicht alles essen darf. Luisa ist fast vier Jahre alt, ein fideles Kind, das gern in die Kita und auf Kindergeburtstage geht. Und doch ist sie unheilbar krank. Sie leidet an der angeborenen Stoffwechselkrankheit Phenylketonurie, abgekürzt PKU. Nur einer von 10.000 Menschen in den deutschsprachigen Ländern leidet darunter. Diese seltene Krankheit kann seit Einführung des Neugeborenenscreenings im Jahr 1968 unmittelbar nach der Entbindung diagnostiziert werden. Wird sie nicht behandelt, führt sie zu schweren geistigen Behinderungen.

Damit Luisa fit und fidel bleibt, ist ihre Mutter auf der Hut: Nina Ilsen aus Großheide muss für ihre jüngste Tochter eine eiweißarme Ernährung organisieren, konsequent und penibel protokolliert. Ein Eiweißbestandteil, die Aminosäure Phenylalanin, schädigt das Gehirn. Daher muss bei allen Lebensmitteln geschaut werden, wie hoch der Phenylalanin-Gehalt ist. Luisa darf nur eine gewisse Anzahl von Phe zu sich nehmen, aktuell sind es 450. 450 Feen, wie sie sagt. Einmal wöchentlich wird ihr Blut untersucht, um ihren Gesundheitsstand zu bestimmen.

Manchmal gibt es für Luisa auch ein Erdbeereis.

Manchmal gibt es für Luisa auch ein Erdbeereis. © Foto: privat

Mit zwei Brötchen durch den Tag

Zum Verständnis: In einem normalen Weizenbrötchen befinden sich 200 Phe. Somit dürfte Luisa an einem Tag zwei trockene Brötchen essen. Weicht sie davon ab, bekommt sie Kopfschmerzen, wird vielleicht schläfrig oder aufgekratzt. Es könnte zu Anfällen kommen.

Wer PKU hat, hat eine „unsichtbare Behinderung“, erzähl Nina Ilsen. Ihre Tochter ist ein fröhliches Kind, äußerlich sieht man ihr nichts an. Daher wird diese seltene Erkankung oft auch nicht ernst genommen. Nina Ilsen sieht, wie Menschen ihre Augen verdrehen, wenn sie darauf hinweist, dass Luisa etwas nicht essen darf. An die Wursttheke geht sie nur, wenn Luisa nicht mit im Supermarkt ist. Sie will sich nicht immer rechtfertigen, warum die Kleine keine Scheibe geschenkt bekommen darf. Die Situation ist jetzt, im Kita-Alter, schon nicht angenehm. Wie wird es erst, wenn sie in die Pubertät kommt und Gleichaltrige gern in den Burgerladen oder die Pizzeria wollen?

Damit Luisa den gesamten Tag über nicht nur mit zwei Brötchen auskommen muss, rechnet ihre Mutter mit Küchenwage und Taschenrechner durch, was sie wovon essen darf. Denn eine ausgewogene Ernährung ist natürlich auch wichtig. Nina Ilsen greift zudem auf eiweißarme Ersatzprodukte zurück, die es nicht im normalen Geschäft gibt. Ein Beispiel? Ein handelsübliches Stück Schokolade hat 30 Phe. Die eiweißarme Variante nur fünf Phe. Allerdings kostet die 150-Gramm-Packung rund 17 Euro. Da wird Schokolade wirklich zur kleinen Kostbarkeit. Nina Ilsen freut sich, dass der aktuelle Trend zu veganen Produkten den PKU-Patienten zugutekommt. Vegane Schokolade besitzt zum Beispiel nur zehn Phe.

Das ist ein kleiner Vorteil, ändert aber nichts daran, dass das Gesundheitssystem hinsichtlich PKU verbesserungswürdig ist. Lebensmittel-Mehrkosten, die jährlich bei bis zu 2000 Euro liegen, werden nicht erstattet. Und die kommen schnell zusammen. Die Pasta-Packung kostet um die fünf Euro, ein Kilo Mehl sechs. Dazu kommt, dass erwachsene PKU-Patienten mangels Alternativen zu spezialisierten Kinderärzten gehen müssen. Nachbesserungsbedarf besteht an vielen Fronten.

Gemeinsamer Einsatz für die Patienten

Die Betroffenen haben sich allerdings zusammengetan, um sich gegenseitig zu unterstützen. Die Deutsche Interessengemeinschaft Phenylketonurie (DIG PKU) ist Anlaufpunkt für Patienten, wurde 1975 von acht Elternpaaren gegründet und hat heute rund 1900 Mitglieder, die in 19 Regionalgruppen aktiv sind. Luisas Eltern Nina und Wilfried Ilsen haben sich in diesem Jahr entschlossen, die Regionalgruppe Weser-Ems zu gründen. Bis dato waren Patienten an Nordrhein-Westfalen anhängig. Es sind nicht viele. Luisa Ilsen in Großheide, ein junger Mann wohnt in Marienhafe. Andere leben in Papenburg, Cuxhaven oder Lingen.

Alle treffen sich zum Kochen in Norden

Lange kannten sich die Familien nur über einen virtuellen Austausch. Jetzt aber lud Familie Ilsen alle nach Norden ein. In der KVHS veranstalteten sie einen Kochkurs. Sieben betroffene Familien nahmen teil, dazu eine Ernährungsberaterin. Gemeinsam wurden ostfriesische Spezialitäten zubereitet, Bauernfrühstück und Speck-Bohnen-Gerichte, Schwarzwurzelsalat und Ostfriesentorte. Alles eiweißarm und schmackhaft. Als Schmankerl fand in Kooperation mit dem Teemuseum eine Teezeremonie statt.

In der KVHS wurde fleißig gekocht.

In der KVHS wurde fleißig gekocht. © Foto: privat

Das Wichtigste für alle Teilnehmer war aber der gemeinsame Austausch. Die Patienten und ihre Angehörigen konnten über ihre Sorgen und Nöte sprechen. Zum Beispiel darüber, dass sie eben nicht froh sind, dass PKU „nur eine Ernährungsstörung“ ist und keine körperliche Behinderung. Oft würde ihnen gesagt, sie sollten doch froh sein, dass die Kinder ansonsten fit seien. „Natürlich bin ich froh, dass Luisa nicht körperlich behindert ist. Aber deshalb bin ich doch nicht froh, dass sie PKU hat“, sagt Nina Ilsen. „Wir wollen doch alle gesunde Kinder.“

Der Austausch der Vereinsmitglieder war so gut, dass sie sich einig sind: Bald wollen sie sich wiedertreffen. Es muss dann nicht unbedingt gekocht, aber auf jeden Fall geklönt werden.

Nina Ilsen hofft derweil, dass Luisa irgendwann einmal 650 Phe am Tag zu sich nehmen kann. 1000 wären ein Traum. Dann, sagt sie, könnte sie auch einfach mal eine Pizza essen.

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