Wer sich entspannen wollte, war fehl am Platz
Die Kinosatire „Muxmäuschenstill X“ holte bei ihrer Sondervorführung Norder aus ihrer Komfortzone. Welche Szenen regten Diskussionen an?
Lesedauer: ca. 3min 08secDen Abend gemütlich mit einem netten Kinofilm verbringen? Sich zurücklehnen, ein bisschen schmunzeln über die eingestreuten Spitzen gegen die Bahn, grinsen, als Herr Mux die Leute aus den überfüllten Zweite-Klasse-Abteilen in die Erste bugsiert und nicht immer nur freundlich die dort Sitzenden auffordert, doch bitte die abgelegte Tasche neben sich wegzunehmen, damit jede und jeder sitzen kann? Von wegen! „Muxmäuschenstill X“ fordert jede der rund 95 Minuten Film Aufmerksamkeit, zwingt zum Mit- und darüber Nachdenken. Wobei für Letzteres so schnell die Zeit eben nicht bleibt.
Auf der Reise durch das Land
Jan Henrik Stahlberg und Martin Lehwald reisen mit dem Film gerade durch das Land. Wie bereits berichtet, machen sie damit in Orten, an denen es keinen regulären Filmbetrieb in Kinos gibt, Station. Bringen das Kino zu den Menschen, laden ein zum anschließenden Gespräch, zum Austausch, zur Diskussion. An diesem Montag in Norden dauert es eine Weile, bis Gespräch und Diskussion in Gang kommen. Am Ende stehen manche aber noch lange draußen vorm Bürgerhaus, wo der Streifen gezeigt wurde, um mit Stahlberg und Lehwald tiefer einzusteigen in die Materie.
Weil es ein Film ist, der pikt, der anstachelt, der, einmal in Verstandes- und Gefühlswelt eingedrungen, rumort und quält. Warum? Vielleicht weil er nicht zuletzt jene anklagt, die einen Großteil des Publikums ausmachen. Runter vom Kinosessel, raus aus der Bequemlichkeitszone und dem „Hauptsache, mir geht es gut“ – abschotten von den Problemen, Sorgen und Nöten ringsum.
„Uns geht es um Inhalte“, sagt Stahlberg, Autor, Regisseur, Hauptdarsteller. Allein schon ein Grund für den Schauspieler, mehr und vielleicht andere Menschen zu erreichen als das übliche Kinopublikum. Stahlberg ist vor allem durch die Vorläufersatire „Muxmäuschen-still“ aus dem Jahr 2004 bekannt geworden. Satire im Film ist sein Metier – neben Politik hat Stahlberg auch den Film und die Medien insgesamt schon auf diese Weise kritisiert. Man lacht, man amüsiert sich – für Augenblicke. Aber man erschrickt auch, man ist fassungslos, man fühlt sich ertappt. In Muxmäuschenstill X werden Menschen im wahrsten Sinne des Wortes bloßgestellt, werden Wahrheiten, die niemand hören will, direkt angesprochen. Auch ein Film zum Schämen für viele, sehr viele in unserer Gesellschaft.
Die Zuschauer fühlen sich ertappt
„Nach oben treten, nicht nach unten“ als Gegensatz zu „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Ist das so etwas wie die zentrale Botschaft? Vielleicht. Und doch viel mehr. Da ist dieser seltsame Herr Mux, der als Fortsetzung aus dem Film vor 20 Jahren aus dem Koma erwacht und die Welt neu und von außen betrachtet. Der Menschen am Rande der Gesellschaft trifft: „Seid ihr der Mittelstand?“, fragt er jene, die obdachlos sind, von der Tafel versorgt werden. Und ihnen dann ins Gesicht sagt, was vermutlich nicht wenige andere denken: „Ehrlich, wir verabscheuen euch. Eure Not kotzt uns an!“ Starker Tobak – und wer schaut verschämt zur Seite, weil er sich in seinen Gedanken ertappt fühlt.
Aber so einfach ist es nicht. „Was ist Neoliberalismus?“ Da weiß die Lehrerin in der Klasse, die Herr Mux besucht, die Antwort so wenig wie die Schülerin. Ist er der Kern des Übels? Stahlbergs Film ist die Aufforderung, sich damit auseinanderzusetzen. Ist Herr Mux, so verrückt er rüberkommt, wirklich ein Psychopath, wie er immer mal bezeichnet wird? Vielleicht. Aber sicher lohnt sich die Diskussion über unsere Gesellschaft: Ich allein oder wir gemeinsam? Gegen- oder miteinander? Die Forderung nach einer Vermögensteuer, daraus finanzierte Solidarjobs – im „Manifest des Muxismus“, das im Bürgerhaus zum Film auslag, wird aus der Psychopathenidee trotz des oder gerade wegen des Aufdrucks „Das ist Satire“ viel mehr. Eine Grundsatzidee, ein Keim, der wachsen möchte und es verdient, weiter gedacht und entwickelt zu werden.
Muxmäuschenstill X ist verrückt, verschroben, schwer verdaulich, manchmal lustig, manchmal kompliziert. Und weiter auf dem Weg durch die Lande, ehe er in echten Kinos läuft. Ganz wichtig: Er packt an, was wir oft nicht sehen und wahrhaben wollen. Nimmt Fahrt auf in Elstertrebitz, einem Örtchen nahe Leipzig. Nicht nur dorthin haben die Züge Verspätung oder fallen aus.