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Erstellt:
16. Dezember 2023, 16:00 Uhr

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Als die Nordsee Weihnachten zerstörte

Auch die Katastrophen-Flut von 1717 gehört zur Geschichte des besinnlichen Fests in Ostfriesland

Lesedauer: ca. 4min 13sec
„Deichbruch“ nannte der Wilhelmshavener Maler Alfred Eden-Bant die von ihm 1941 geschaffene Darstellung (Öl auf Holz) einer Flutkatastrophe an der ostfriesisch-oldenburgischen Nordseeküste.Das Original befindet sich im Ostfriesischen Landesmuseum in Emden.

„Deichbruch“ nannte der Wilhelmshavener Maler Alfred Eden-Bant die von ihm 1941 geschaffene Darstellung (Öl auf Holz) einer Flutkatastrophe an der ostfriesisch-oldenburgischen Nordseeküste. Das Original befindet sich im Ostfriesischen Landesmuseum in Emden. ©

Es sind Worte, die betroffen machen: „Liebe Mutter, Gott tröste dich, denn dein Sohn ist nicht mehr. Ich stehe hier und bitte Gott um Vergebung der Sünden.“

Weihnachten ist das Fest der Besinnlichkeit, der Freude und leuchtenden Augen. Doch die Nordsee, die nicht umsonst auch immer mal wieder als „Mordsee“ bezeichnet wird, schläft auch über die Feiertage nicht.

Die eingangs zitierten Zeilen stammen aus einem Tagebucheintrag, genauer gesagt aus dem letzten Tagebucheintrag, den der 21-jährige Navigationsschüler Tjark Ulrich Honken Evers noch notieren kann, bevor er am 23. Dezember 1866 vor dem rings um ihn herum immer weiter steigenden Wasser der Nordsee kapitulieren muss.

Auf dem Weg nach

Baltrum falsch abgesetzt

Was war passiert? Evers hat die Tage vor Weihnachten in Timmel auf dem Festland zugebracht und macht sich kurz vor dem Fest auf den Weg zu seiner Familie nach Baltrum, wo er die Feiertage im Kreis seiner Lieben verbringen will. In Wes-teraccumersiel besteigt er zusammen mit einem weiteren Schüler ein Schiff, das beide zu ihren Heimatinseln bringen soll.

Nachdem der Kollege wie geplant auf Langeoog abgesetzt worden ist, gerät das Schiff auf der winterlichen Nordsee in dichten Nebel und muss ohne echte Sicht Richtung Baltrum navigiert werden. Nach einiger Zeit scheint der Strand in Sicht, Evers wird abgesetzt und die Seeleute setzen ihre gefährliche Blindfahrt fort.

Tjark Evers jedoch merkt nach kurzer Zeit, dass etwas nicht stimmt. Er läuft ein Stück vom Wasser weg, doch plötzlich ist da wieder Wasser. Vor ihm Wasser, hinter ihm Wasser, und in diesem Moment weiß er: Er ist nicht am Baltrumer Strand, sondern mitten in der Nordsee auf einer Sandbank. Das Schiff: Es ist weg. Rings um Tjark Evers ist nichts als Nebel und Wasser. Das Wasser, das in den nächsten Stunden immer weiter steigen und die Sandbank verschlingen wird.

Tjark Evers weiß, dass Rettung nur durch ein Wunder geschehen kann, öffnet sein Tagebuch, das er immer dabei hat und beginnt zu schreiben: „Seid alle gegrüßt. Ich habe das Wasser jetzt bis an die Knie, ich muss gleich ertrinken, denn Hülfe ist nicht mehr da. Gott sei mir Sünder gnädig. Es ist 9 Uhr, Ihr geht gleich zur Kirche, bittet nur für mich Armen, dass Gott mir gnädig sei.“

Tjark Evers ertrinkt in dieser Nacht, das Weihnachtswunder bleibt aus. Seinen Leichnam gibt die Nordsee nie wieder frei, doch die Zigarrenkiste mit seinem Tagebuch und dem Stift wird über eine Woche nach Weihnachten am Strand von Wangerooge angespült und am 3. Januar 1867 dort gefunden. Heute kann man sie im Museum Altes Zollhaus auf Baltrum besichtigen.

Doch die Nordsee holt sich nicht nur einzelne Unglückliche wie Tjark Evers, sie ist auch für die ganz großen Katastrophen zuständig. 150 Jahre vor dem Unglück des Seefahrtschülers, wir schreiben das Jahr 1717, lebten die Menschen in Ostfriesland ein paar Tage vor dem Weihnachtsfest noch in dem Glauben, ruhige Tage verbringen und sich auf den Jahreswechsel vorbereiten zu können.

Doch die Wetterlage, so lässt sich mit heutigen Mitteln rekonstruieren, war bereits zu dieser Zeit durchaus ungewöhnlich. Hatte zunächst starker Südwind große Wassermassen in die Nordsee gedrückt, so wechselte plötzlich die Windrichtung auf Nordwest und das Hochwasser richtete sich direkt gegen die Deiche der ostfriesischen Küste.

An Heiligabend brachen

die Deiche

Immer und immer wieder brandeten die Wellen mit ungeheurem Druck gegen die nicht sehr massiven Deiche und gruben sich tiefer und tiefer in sie hinein. Am Heiligabend 1717 war es dann so weit: Die Deiche brachen an verschiedenen Stellen und wurden schließlich auf breiter Front einfach hinweggeschwemmt. In der Nacht zum 25. Dezember gewann der Sturm noch an Kraft und Gewalt, die Wassermassen ergossen sich über die Marschflächen der Küste. Es war, als ob die Nordsee sich mit Macht zurückholen wollte, was die Menschen ihr zuvor mühsam abgerungen hatten. Einzelne Höfe und vor allem die erhöht liegenden Kirchen schauten aus diesem Inferno heraus wie einsame Leuchttürme in einer apokalyptischen Vision aus Wasser und Sturm.

Die ganze Nacht über wütete die Natur und verwüstete weite Teile der Küste. Erst am nächsten Morgen hatte sich die Wetterlage beruhigt und die Überlebenden konnten sich das ganze Ausmaß der Schäden anschauen. Häuser schwammen in Einzelteilen herum, überall trieben Opfer der Flut im Wasser und an Aufräumen war noch lange nicht zu denken. Bei Friedeburg, so weiß die Legende, sollen ein Hund und ein Hase gemeinsam auf einem Balken sitzend die Katastrophe überlebt haben. So zeigt sich bisweilen mitten im tiefsten Dunkel ein winziges Licht der Hoffnung.

Die Angaben in den alten Quellen schwanken, doch geht man davon aus, dass mindestens 5000 Menschen der Weihnachtsflut 1717, wie sie heute offiziell betitelt wird, zum Opfer gefallen sind, an einer Stelle ist sogar von bis zu 12000 Toten die Rede.

Die Flut erreichte

sogar Aurich

Die Flut kam bis vor die Tore von Aurich, wo sie vergleichsweise wenig Schaden anrichtete, während sich die Menschen in Emden, Esens und Norden zum Teil in die höher gelegenen Stockwerke ihrer Häuser flüchten mussten. Erst ab dem 28. Dezember begann sich das Wasser nach und nach aus der Fläche zurückzuziehen und durch die salzigen Fluten weithin unbrauchbar gewordenes Marschland freizugeben. Süßwasserbrunnen waren nicht mehr zu benutzen, die Wasserversorgung auf Monate hin gestört. Das Jahr 1718 muss eines der entbehrungsreichsten der ostfriesischen Geschichte gewesen sein.

Der Wiederaufbau nach der Katastrophe dauerte viele Jahre, erst 1725 waren die Deichanlagen vollständig wieder hergestellt, zu astronomischen Kosten. Allein für die Reparatur des Buttjadinger Deiches sollen 301880 Reichstaler notwendig gewesen sein und der damalige Regent, Fürst Georg Albrecht, verpfändete die Einkünfte des Harlingerlandes, um in den Niederlanden eine Anleihe über zwei Millionen Gulden aufnehmen zu können.

Weihnachten also mag zwar immer ein wenig wie eine aus der Zeit gefallene Episode im Jahr wirken, doch bisweilen holt einen die harte Realität auch in diesen festlichen Tagen ein, und auch diese Ereignisse gehören zur Geschichte der ostfriesischen Weihnacht. Kommenden Sonnabend, einen Tag vor dem Heiligen Abend, gibt es hier dann wieder etwas Schöneres zu lesen, bleiben Sie gespannt und genießen Sie den dritten Advent im Lichterschein!

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